Winterschlaf Geschichten 1-3 Tiere

Siebenschläfer Siggi

       

        Er lebte unter dem Dachvorsprung einer alten Scheune. Dort, wo der Dachsparren auf dem Mauerwerk auflag, befand sich eine schmale Nische. Sie war gerade groß genug, so dass Siggi,
das Siebenschläfermännchen,
es sich darin gemütlich machen konnte. Seine Artgenossen leben zwar meist auf Bäumen, Siggi hat sich jedoch hier oben gemütlich eingerichtet. Mithilfe seiner Sohlenballen, die wie Saugnäpfe funktionieren, schaffte er es spielend, an der senkrechten Wand der Scheune hoch zu klettern. Tagsüber verdöste er die meiste Zeit. Siebenschläfer sind nachtaktiv, sie gehen erst in der Dunkelheit auf Nahrungssuche und können dann mit ihren großen Augen besonders gut sehen.
Dabei machen sie oft einen ganz schönen Lärm und nehmen keine Rücksicht auf eventuelle Mitbewohner. Schon so manches Mal wurden Menschen aufgeschreckt und meinten,
Diebe wären im Haus.
Zu ihrer bevorzugten Nahrung gehören Nüsse, Eicheln und vor allen Dingen Bucheckern.
Im Herbst verschmähen sie aber auch nicht Insekten und anderes Kleingetier, weil sie sich dann für ihren langen Winterschlaf ein dickes Fettpolster anfressen müssen. In einem tief in der Erde angelegten, frostsicheren Winternest will Siggi einen kleinen Nahrungsvorrat von Bucheckern und Eicheln ansammeln, den er aber erst beim Aufwachen im Frühjahr verzehrt. Siebenschläfer sind mausähnliche Nagetiere, die aus der Ferne oft mit Eichhörnchen oder Grauhörnchen verwechselt werden
, obwohl sie viel kleinere Ohren und eine ganz andere Farbe haben.

        Von hier oben, unter dem Dachvorsprung der alten Scheune, hatte Siggi einen wundervollen Ausblick auf den großen Garten mit der Hecke, das angrenzende Feld und die dahinter liegende Streuobstwiese.
Ein herrlicher Lebensraum für einen kleinen Siebenschläfer!

In diesem Sommer hatte Siggi jedoch etwas Pech gehabt.
Er war bei seinem Ausflug zur Brombeerhecke und der anschließenden Kletterei ein wenig unvorsichtig gewesen und hatte sich an einem seiner Fußballen verletzt. Ein kleiner Kratzer nur, vielleicht auch ein Riss, aber Siggi war doch sehr in seinen Aktivitäten eingeschränkt.
Mit den etwas feuchten Fußballen hatte er beim Klettern an glatten Baumstämmen und Wänden nun seine Probleme.

 

Vorbereitungen

               

        Jetzt verspürte Siggi diese Unruhe in sich, die jedes Jahr im September oder Oktober schlimmer wurde.

„Fressen, fressen“, schien eine innere Stimme zu sagen, als ob er nicht jeden Tag genügend fressen würde.

Aber da war noch etwas anderes zu spüren. Siggi bemerkte instinktiv, dass er fettreiche Nahrung benötigte, also neben Bucheckern und so weiter zusätzlich Insekten und kleine Tiere. Siggi brauchte unbedingt ein Fettpolster, das ihn ungefähr acht Monate lang in einer Höhle unter der Erde am Leben halten sollte. Und die Höhle musste auch erst einmal gegraben werden, das verbrauchte noch mehr Kraft und somit Kalorien.

Also nichts wie raus aus seinem molligen Schlafplatz und rein ins unbarmherzige Leben! Dort, neben der Scheune, hatte er in den letzten Jahren immer gebuddelt und sich einen Überwinterungsplatz geschaffen.

Aber was war das? Schon beim ersten Kratzen im Erdreich durchzuckte ihn ein brennender Schmerz, und Siggi musste sich den Riss an seinem Fußballen lecken, um etwas Linderung zu bekommen.

„Ach du meine Güte, nur das nicht, nur jetzt keine Behinderung!
Ich muss meine Höhle doch mindestens achtzig Zentimeter tief in der Erde einrichten,
damit mich nicht der kalte Frost erreicht!“, dachte Siggi und machte sich erneut an die mühselige Arbeit.

Aber so sehr er sich auch abmühte, nicht nur der Fußballen pochte vor Schmerz, da war auch noch etwas anderes. Das Erdreich hatte sich verändert, es war hart wie Beton! Siggi kam keinen Zentimeter in die Tiefe, er bekam nicht die kleinste Kuhle zustande. Er versuchte es an mehreren anderen Stellen. Doch überall war es das Gleiche, Siggi kam nicht in die Erde. In diesem Jahr war der Spätsommer dermaßen trocken gewesen, und es hatte überhaupt nicht geregnet, so dass sich das Erdreich wie eine Betondecke verdichtet hatte, für kleine Siebenschläfer viel zu hart!
Nun war guter Rat teuer!

 

Haselmaus

 

        Als er in der Nähe der Hecke sein Glück versucht hatte und ebenfalls gescheitert war, kam plötzlich wie aus dem Nichts eine kleine Haselmaus an ihm vorbeigeflitzt.

„Halt, warte mal!“, rief Siggi.

Doch bevor er mehr sagen konnte, war sie schon weiter. Siggi wurde traurig, keiner hatte Zeit für ihn. Als er sich schon abwenden wollte, kam die Haselmaus von der anderen Seite angeflitzt.

Siggi stellte sich ihr in den Weg und rief noch lauter:

„Stopp, halt doch mal an!
Ich habe eine wichtige Frage!“

„Keine Zeit, keine Zeit“, fiepte die kleine Maus und schon war sie seitwärts an ihm vorbeigerast.


Beim dritten Mal hatte Siggi mehr Glück. Die Haselmaus war etwas außer Atem und kam nicht so schnell vorbei.

Sie hielt an und japste:
„Man, was ist denn los, warum störst du mich bei meinen wichtigen Geschäften?
Mach schnell, ich muss weiter!“

„Was kann so wichtig für dich sein, dass du nicht mal das Leben eines Kameraden retten würdest?", fragte Siggi erstaunt.

„Also“, entgegnete das Mäuschen etwas außer Atem, „erstens bist du nicht mein Kamerad und zweitens siehst du nicht gerade unterernährt aus, geschweige denn so, als ob du gleich das Zeitliche segnen würdest!
Und ich muss für den Winterschlaf vorsorgen, also ...“

„Du hast ja Recht“, unterbrach Siggi, „aber ich habe ein ziemliches Problem. Es ist Herbst, und ich muss mich auch auf meinen Winterschlaf vorbereiten, aber ich komme nicht in die Erde,
kann mir also keine Höhle buddeln!
Die brauche ich unbedingt zum Überleben.“

„Und wie, meinst du, könnte ich dir dabei helfen? Ich bin nicht zum Buddeln geschaffen und übrigens muss ich jetzt los, mein Nest ist auch noch nicht fertig“, antwortete die Haselmaus und wollte wieder starten.

„Halt, halt, eine letzte Frage!“ Siggi wurde ungeduldig!
„Wenn ich es in diesem Jahr wirklich nicht schaffen sollte, in die Erde zu kommen,
kann ich dann vielleicht bei dir überwintern, sozusagen als Untermieter. Ich helfe dir auch bei deiner Arbeit!“

„Kommt mir gar nicht in die Tüte“, feixte die Haselmaus.
„Du dicker Brocken in meinem supertollen filigranen Nest!
Das ich nicht lache! Wir wären keine Sekunde drin, und alles bräche auseinander. Suche dir einen anderen Dummen!“

Und weg war sie.

Etwas geknickt stand Siggi bei der Hecke.

„Such dir einen anderen Dummen!“, äffte er die Haselmaus nach.
„Ich brauche im Moment keinen Dummen, sondern einen Gescheiten - und einen Kameraden oder Kumpel dazu, der mich bei sich überwintern lässt!“

 

Igel

 

        Der Verzweiflung nahe, drehte sich der kleine, traurige Siebenschläfer um und wollte gerade seine Nahrungssuche fortsetzen. Da bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass sich ihm ein Blätterhaufen näherte. Verdutzt schaute er genauer hin und bemerkte, dass die Blätter sich nicht von alleine bewegten, sondern auf den Stacheln eines Igels aufgespießt waren und von diesem transportiert wurden.
Auf langen Beinen trippelte der Igel mit seiner Last unter den nächstgelegenen Rhododendronstrauch und war verschwunden.

„Nichts wie hinterher!“,
dachte Siggi und verschwand ebenfalls unter dem Strauch.


Was er dort sah, ließ sein kleines Herzchen vor Aufregung höher schlagen. Eine kleine Erdmulde war mit den weichsten Materialien ausgepolstert, die er jemals gesehen hatte. Da lagen Moose, Farne und Blätter, schützend umrankt von kleinen Zweigen.

„Oh, ich glaube es nicht, das ist genau das Richtige für mich!“, staunte Siggi.

Er wollte einen weiteren Blick riskieren und das wundervolle Nest genauer unter die Lupe nehmen, da wurde er von der Seite her angefaucht und schreckte ängstlich zurück. Bedrohlich näherte sich ihm ein stacheliger Ritter und spitze Stacheln wurden ihm entgegen gereckt. Ein erneutes Fauchen und eine Fistelstimme ließen ihn aufhorchen:

„Was willst du hier? Verschwinde auf der Stelle! Das gehört alles zu meinem Nest.“
„Ja, ja“, stammelte Siggi etwas ängstlich, „ich bin doch nur neugierig. Also, wenn ich ehrlich sein soll - ich bin nicht nur neugierig, sondern ich bin auch auf der Suche.“

„Was suchst du denn, hier bei mir?“, stieß das Stacheltier nicht gerade freundlich hervor.

Siggi nahm all seinen Mut zusammen und erzählte dem unfreundlichen Gastgeber unter Schniefen und Schluchzen von seinen Problemen. Beim Zuhören wurde der Igel zusehends freundlicher. Er schaute sogar,
als Siggi geendet hatte, ebenfalls etwas traurig aus der Wäsche,
als ob er nun Mitleid bekommen hätte. Siggi war schon guter Hoffnung und fragte mit erwartungsvoller Stimme:

„Darf ich also bei dir bleiben und mit dir in deinem Nest den Winter verbringen? Ich schlafe auch den ganzen Winter durch und mache dir bestimmt keine Schwierigkeiten.“

„Oh, das tut mir jetzt aber leid, wenn ich dir Hoffnung gemacht haben sollte. Selbst wenn ich wollte, hätte unser Zusammenwohnen keine Zukunft.“

Der Igel zog bedauernd seine Schultern hoch, so dass seine Stacheln rasselten.

„Sieh mich an! Wenn ich schlafe, bin ich eine runde Kugel und von allen Seiten mit Stacheln bestückt. Im Schlaf bewege ich mich oft und drehe mich häufig um, dann bekommst du jedes Mal einen Piekser mit und wachst auf. Ich weiß, dass ein vielfaches Aufwachen euch Siebenschläfern nicht gut bekommt, das überlebt ihr nicht!“

„Da hast du wohl recht“, schniefte Siggi,
„auf diesem Gebiet sind wir Siebenschläfer sehr empfindlich. Wenn wir mit unserem Fettpolster auskommen wollen, dann dürfen wir höchstens zwei Mal für ganz kurze Zeit aufwachen und müssen sofort wieder einschlafen.“

Der Igel kam näher heran und schnüffelte an Siggis Nase.

„Schade“, meinte er, „vertragen hätten wir uns schon, das fühle ich jetzt, aber was nicht geht,
das geht nun mal nicht.
Wir sind eben zu verschieden.“

Siggi schnüffelte zurück und sagte: „Ja, schade, ich hatte mich schon so gefreut. Bei dir hätte ich mich wohl und sicher gefühlt.
Nun ja, da kann man nichts machen, mach´s gut!“

Mit diesen Worten zog er sich traurig zurück, verließ das einladende Nest und machte sich erneut auf Nahrungssuche.

 

Eichhörnchen


        Nicht weit entfernt, am Stamm einer Buche, machte Siggi eine unerwartet freudige  Entdeckung. Ein kleiner Käfer kletterte den Stamm hinauf und suchte vergeblich nach Verstecken in der Borke.

„Du hättest dir besser eine knorrige Eiche aussuchen sollen, da hättest du eher ein Versteck gefunden“, sagte Siggi mehr zu sich selbst, als zu dem Käfer. „Jetzt hast du Pech gehabt.
Ich muss dich leider verspeisen, denn ich brauche proteinreiche Nahrung für meinen langen Winterschlaf.“

Genau in dem Moment, als er zugreifen wollte, fiel ihm eine Walnuss vor die Füße, und er hörte jemanden ganz dicht vor seiner Nase sagen: „Hab dich!“

Dabei  schien ihn ein keckerndes Stimmchen auszulachen.
Im gleichen Augenblick wischte ihm ein buschiger Schwanz durchs Gesicht und das dazu gehörige

Tier verschwand auf der anderen Seite des Baumes.

„Hey, was soll das, das ist mein Käfer“, schimpfte Siggi, „ich habe ihn zuerst entdeckt! Wer bist du überhaupt?“

Hinter dem Baum hervor erschienen zwei Pinselohren, und ein Eichhörnchen grinste ihn an.
„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, keckerte es,
„und wer es im Leben zu etwas bringen will, der muss auf zack sein! Pech gehabt, ich war schneller!“

Nach diesen Bemerkungen drehte es zwei schnelle Runden um die Buche und wollte schon weiter.
Als es jedoch Siggis traurigen Gesichtsausdruck bemerkte,
hielt es in der Bewegung inne.

„Hoppala, was ist dir denn über die Leber gelaufen, oder hast du etwa deine versteckten Nüsse vom letzten Jahr nicht alle wiedergefunden?“

„Nein, nein, wir Siebenschläfer verstecken keine Nüsse.
Wir fressen uns ein Fettpolster für den Winterschlaf an und buddeln uns tief im Erdboden ein. Aber gerade das scheint ja in diesem Jahr nicht zu klappen.“

Mit trauriger Miene erzählte Siggi dem Eichhörnchen von seinem Missgeschick. Das Eichhörnchen hörte aufmerksam zu und meinte dann: „Und ich hatte schon gedacht, du wärst ein nicht fertiges Eichhörnchen, so, wie du aussiehst. Aber erst jetzt merke ich, dass du ja ganz anders riechst, eben wie ein Siebenschläfer!“

„Ja, und“, wollte Siggi sich schon freuen, „können wir beide denn vielleicht Kumpels sein und den Winterschlaf gemeinsam in deinem Kobel verbringen?“

„Leider Pech gehabt, Kumpel“, bedauerte das Eichhörnchen.
 „Aus zwei Gründen geht das zu meinem Bedauern nicht: Erstens wachen wir Eichhörnchen während des Winterschlafs immer mal wieder auf, deshalb nennt man uns ja auch eher Winterruher.
Das wäre für deine Gesundheit nicht gut. Zweitens habe ich eine derart empfindliche Nase zum Wiederfinden meiner verbuddelten Nüsse, dass ich deinen Fellgeruch nicht länger als von Zwölf bis Mittag ertragen könnte. I´m so sorry!“

Und mit diesen für Siggi unverständlichen Worten nahm das Eichhörnchen die fallen gelassene Nuss wieder auf und war in zwei weiten Sprüngen auf dem nächsten Baum verschwunden.

„Warte, vielleicht ...!

Aber Siggi wurde nicht mehr gehört. Er wollte noch so etwas wie eine intensive Fellpflege vorschlagen - aber er war wieder allein. 

 

Feldhamster Harry

       

        Siggis Kopf war voll von trüben Gedanken. Was sollte aus ihm werden? Würde er den kommenden Winter überstehen? Alles schien sich gegen ihn zu wenden!

Er hatte gar nicht bemerkt, wie weit er schon gegangen war und auch nicht, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Erst, als er durch einen flachen Graben klettern musste und auf der anderen Seite wegen der hohen Halme, die ihm den Weg versperrten, nicht weiter konnte, kam er wieder zu sich und schaute sich um. Die hohen Halme kannte er. Es war das Feld, welches er von seinem Schlafplatz unter dem Scheunendach aus sehen konnte. Aber was sollte er hier?
Das Erdreich war genauso fest und undurchdringlich wie überall.


„Ich gehe lieber zurück, lege mich irgendwo hin und warte auf den Winter. Vielleicht finde ich ja einen gnädigen Schlaf und wache nicht mehr auf“, jammerte Siggi halblaut und wollte schon kehrtmachen.

„Waff find daf  denn für miefepetrige Föne?“, hörte er auf einmal eine seltsame Stimme.
Sie kam aus demselben Graben, den er eben überwunden hatte.

„Auff dem Feg, ich muff da durf!“

Diese Sprache war Siggi fremd,
er verstand kein Wort.

Erst als er den Kopf eines Feldhamsters aus dem Graben ragen sah, konnte er sich einen Reim auf das Ganze machen.
Der Hamster war gerade dabei, mit beiden Pfoten auf seine riesigen Backentaschen zu drücken und spie im gleichen Moment einen großen Batzen Stängel, Klee, Mais und andere Pflanzenreste vor sich auf den Boden.

„Hast du nicht gehört?“, wiederholte der Hamster.
„Du sollst nicht so miesepetrige Töne von dir geben und aus dem Weg gehen. Ich muss da durch und meine Vorratskammer füllen. Der Winter kommt immer näher.“

Schon wieder und mit aller Macht wurde Siggi an den nahenden Winter erinnert, und seine Stimmung sank auf den Nullpunkt. Ein paar dicke Tränen kullerten aus seinen großen, schwarzen Knopfaugen, fielen zu Boden und - blieben dort liegen, ohne im Erdreich zu versickern!
Sie benetzten so eben die Oberfläche.

„Hast du das gesehen?
Sieh dir den Boden an. Das ist mein Problem!“, platzte es aus Siggi heraus.

Wie ein Wasserfall brach es aus ihm hervor. Unter Tränen und Rotz erzählte er dem Hamster von seinem Problem.

Er konnte sich kaum beruhigen, zitternd endete er:
„Die Natur lässt mich dieses Jahr im Stich, und ich habe auch keinen Kumpel, der mir helfen kann.
Ich habe alles versucht, ich bin am Ende!“

Der kleine Hamster kroch vollends aus dem Graben heraus, setzte sich aufrecht vor Siggi hin und sagte: „Stimmt doch gar nicht!“

„Was?“, wollte Siggi heulend wissen, „was stimmt nicht?“

„Na, ja, dass du alles versucht hast!“ antwortete der Hamster. „Du hast mich zum Beispiel noch gar nicht gefragt! Ich habe doch alles, was du brauchst!“

„Wie meinst du das?“
Mit offenem Mund stand Siggi da und starrte den Hamster fragend an.
„Ich habe mein Höhlensystem unter der Erde beizeiten angelegt, einige Teile habe ich noch vom letzten Jahr übernehmen können. Nach einer kurzen Renovierung ist jetzt alles fertig. Ich habe eine Vorratskammer, eine Wohnkammer, eine Schlafkammer und eine unterirdische Toilette“, berichtete der Hamster.

„To-i-let-te!“, stammelte Siggi und schaute verdutzt drein.

„Toilette, französisch für Klo, verstehst du?“, erklärte der Hamster. „Oder meinst du etwa, ich möchte im Winter bei der Kälte meine Geschäfte auf freiem Feld erledigen?“

Warum konnten nur alle diese ausländischen Sprachen,
nur Siggi nicht, dachte der kleine Siebenschläfer.

„Übrigens, der Einfachheit halber  kannst du mich Harry nennen - Harry Hamster“

„Nein, natürlich nicht,
und angenehm, Siggi, Siggi Siebenschläfer!“

Siggi konnte sein Glück kaum fassen.

Und schon wieder sprudelte es aus ihm hervor wie ein Wasserfall: „Wir Siebenschläfer wachen im Winter nicht auf, maximal ein-
bis zweimal, und zu fressen brauchen wir schon gar nichts.
Du hast also deine Vorratskammer ganz für dich alleine. Oder, bist du etwa nicht alleine?“
„Doch, ich bin ein Hamsterjunge, und meine Mama hat mich immer einen Einzelgänger genannt.
Ich finde es gut so!
Eine Bedingung habe ich allerding“, unterbrach Harry Siggis Redefluss, „du musst mir beim Sammeln von Vorräten helfen und dir einen Speckmantel anfressen, damit du mich wirklich nicht störst!“

„Abgemacht, und wie abgemacht, mein Freund!“, platzte es aus Siggi heraus.

Er machte einen Satz nach vorne, umarmte seinen neuen Kumpel
und wälzte sich mit ihm vor Freude auf dem Boden.

Nach einer kurzen Besichtigung der neuen Wohnstatt machten sich die Beiden ans Werk, sammelten und fraßen so viel, wie in die Kammern und in ihre Mägen hineinpasste.
Mit der neuen, unterirdischen Wohnung mit den drei Ein- und Ausgängen war Siggi mehr als zufrieden.

 

Der Winter konnte kommen und es wurde der beste Winter für Siggi Siebenschläfer und seinen neuen Kumpel Harry Hamster.

 

Winterschlaf Teil 2

 

Vorräte sammeln

       

        Siggi, das kleine Siebenschläfermännchen, konnte sein Glück kaum fassen. Glück im Unglück muss man eher sagen! Zuerst die Verletzung an seiner Pfote und dann noch der extrem trockene Herbst - das war Unglück genug! Aber jetzt hatte er ja einen Kumpel gefunden,
der ihn bei sich aufnehmen wollte, den Feldhamster Harry!
Die beiden hatten sich schnell aneinander gewöhnt, und man konnte sie schon nach kurzer Zeit alte Freunde nennen.

Zuerst einmal hatten sie sich vorgenommen, Harrys Wintervorräte aufzustocken.
Dazu sammelten sie in der näheren Umgebung alle Feldfrüchte, Gräser und Kräuter, die sie finden konnten. Dabei hatte Harry es viel einfacher als Siggi. Er war in der glücklichen Lage, seine Hamsterbacken riesig dehnen und somit mit viel Nahrung vollstopfen zu können. Siggi hingegen verfügte leider nicht über diese praktische Eigenschaft und musste jedes Teil einzeln zum Hamsterbau, ihrer nun gemeinsamen Wohnung, schleppen. Er lief also um ein Mehrfaches hin und her und erreichte nur einen Bruchteil von dem, was Harry schaffte. Siggi benötigte ja nicht viel, eine Handvoll Bucheckern sollten ausreichen. Deshalb war der Platz, den er in der Vorratskammer in Anspruch nahm, nur sehr klein. Aber das machte keinem der beiden neuen

Freunde etwas aus. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn sie sich bei ihrer Arbeit begegneten, hielten sie kurz an, beschnupperten sich und wünschten einander viel Erfolg.
So wurde ihre Freundschaft immer wieder aufs Neue gefestigt. Es war eine herrliche, wenn auch mühselige Zeit.
Die Tage wurden kürzer,
die Nächte kühler, und die Vorratskammer war zum Bersten gefüllt.

 

Neue Wohnung

 

        „So, das muss reichen“,
sagte Siggi nach einem besonders anstrengenden Sammeltag.
„Jetzt haben wir dermaßen geschuftet, dass wir ganz vergessen haben, unsere Wohnung etwas gemütlicher einzurichten und für den Winterschlaf vorzubereiten.“

„Aber es ist doch alles in Ordnung“, stellte Siggi fest.
„Wir haben doch schon ein paar Mal zusammen in deinem tollen Bau genächtigt. Ich war vollends zufrieden, was willst du denn noch ändern?“

„Ha, ha, warte ab“, tat Harry geheimnisvoll, „es gibt noch viel zu verbessern. Komm mit, je eher wir anfangen, desto eher können wir uns ausruhen und haben dann viel Zeit für uns.“

Siggi war es zufrieden und er folgte Harry durch eine der Fallröhren nach unten in den Bau. Schwupp waren sie in der Wohnkammer angekommen, in der ein warmes Lager vorbereitet war.

„Hier ist doch alles bestens in Ordnung“, meinte Siggi, „hier haben wir doch schon ein paar Mal übernachtet. Ich finde alles prima.“

„Nun ja, so weit so gut“, entgegnete Harry, „hier müssen wir auch nur noch das weiche Oberheu einmal austauschen, dann ist alles perfekt.
Aber zuerst müssen wir uns um die Toilette kümmern. Die muss gründlich gereinigt werden.
Wir wollen uns doch nicht über den Winter irgendwelche Krankheiten einfangen, oder?“

„Toilette ist das französische Wort für Klo!“, prahlte Siggi wichtigtuerisch und hob dabei sein Näschen stolz in die Luft.

„Du lernst ja schnell“, lobte Harry seinen Freund. „Nun zeig aber auch, dass du genauso gut putzen kannst. Lass uns loslegen!“

Wie zwei Wirbelwinde sausten die beiden Freunde durch die Gänge. Und bei jedem Arbeitsausflug nach draußen trugen sie ein paar Kotballen weit von ihrer Wohnung weg und luden sie dort ab.
Nach kurzer Zeit war die Arbeit getan. So schnell war Harrys Toilette noch nie ausgeräumt und sauber. Er war glücklich und stolz auf Siggi.

„Danke, mein Freund, vielen, vielen Dank. Das hat ja geklappt wie am Schnürchen. Wenn wir weiter so gut mit der Arbeit vorankommen, dann kann der Frost bald kommen.“


Mit diesen Worten schob er Siggi in den nächsten Gang und sagte: „So, ab sofort machen wir Arbeitsteilung, wir sind schließlich ein modernes Team. Du schnappst dir einen Besen und fegst alle Gänge und Eingangslöcher blitzblank aus. Es darf kein Krümelchen oder gar Brocken im Weg liegen, sonst können wir bei Gefahr nicht schnell genug flüchten oder angreifen,
je nachdem, was gerade angesagt ist. Ich werde indessen die Wohnkammer mit frischem Heu neu auffüllen.“

Bei dem Wort Gefahr bekam Siggi ganz große und ängstliche Augen. Es war bisher alles so harmonisch verlaufen, sollte es auch etwas Böses in dieser Idylle geben?

„Bleib ruhig, Kumpel“, beschwichtigte Harry,
„bisher hatte ich immer noch Glück gehabt und musste nur ein paar aufdringliche Nachbarn abwimmeln. Aber wirkliche Probleme könnten uns unsere echten Feinde bereiten, der Fuchs, das Wiesel, der Rotmilan und der Turmfalke zum Beispiel. Aber lass uns im Moment gar nicht daran denken, davon erzähle ich dir ein anderes Mal.“

Sie erledigten noch ein paar Restarbeiten und machten es sich anschließend im frischen Heu gemütlich. Dabei vertilgten sie ein paar der frisch gefangenen Insekten, wegen dem Winterspeck, und weil sie es sich verdient hatten!

 

Freunde

 

        Nach ein paar Tagen des Erzählens, des Ausruhens und der Völlerei hatte Siggi, das Siebenschläfermännchen, eine Menge über das Leben und die Gefahren um und in dem Hamsterbau gelernt.
Er fühlte sich als richtiger Fachmann, auch auf dem Gebiet der Feindesabwehr - theoretisch jedenfalls. In der Praxis müsste er sich erst noch bewähren!

Aber etwas anderes brannte Siggi noch unter den Nägeln.
Auch Harry bemerkte seine Unruhe und fragte:

„Was bedrückt dich denn so? Fühlst du dich schon nicht mehr wohl bei mir?“

„Nein, nein, im Gegenteil“, entgegnete Siggi“, ich fühle mich jeden Tag wohler. Das ist es nicht, aber ...“
„Was denn“, drängte Harry, „sag schon, lass dich nicht so nötigen!“

„Also gut“, begann Siggi, „ich fühle mich trotz deiner werten Anwesenheit und deiner liebvollen Fürsorge manchmal etwas einsam. Ich habe zwar nicht besonders viele andere Freunde außer dir, aber die Haselmaus, der Igel und das Eichhörnchen würde ich doch gerne einmal wiedersehen.
Sie haben mir zwar nicht geholfen oder nicht helfen können, aber trotzdem, ...!“


„Oh, wenn es nur das ist“, meinte Harry, „dann laden wir die Drei eben zu uns ein. Platz haben wir genug.“
Siggi jubelte: „Au ja, das wird ein tolles Jahresabschlussfest. Vorräte haben wir genug, und die anderen müssten mittlerweile auch mit dem Sammeln von Vorräten fertig sein.“

Und so war es denn auch. Alle drei Tiere hatten Zeit und kamen der Einladung gerne nach.

Als alle anwesend waren, nahm das Erzählen und Futtern kein Ende. Frohes Gelächter hallte durch alle Gänge und reichte bis in die hinterste Kammer. Einen derart lustigen Abend hatte selbst Harry in seinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Alle waren glücklich und zufrieden!

Der Igel, dem man an diesem Abend wegen seiner Stacheln den Namen Lanzelot verliehen hatte, wollte alle anderen Anwesenden umarmen. Aber zu seiner Verwunderung wehrten sich alle mit Händen und Füßen dagegen. Erst als sie ihn an seine wehrhaften Stacheln erinnert hatten, lachte Lanzelot laut auf und forderte:

„Wenn ich schon einen Namen bekommen habe, und Harry und Siggi sowieso, dann müssen wir jetzt auch die Haselmaus und das Eichhörnchen taufen!“

Das war ein vortrefflicher Vorschlag, und alle Tiere strengten ihre Köpfe an und suchten passende Namen.

„Obwohl das vielleicht zu Verwechslungen führen kann“, meldete sich nach einiger Zeit Siggi, „schlage ich für die Haselmaus den Namen Hasi vor!“

„Nö“, mokierte sich die Haselmaus, „dann muss ich ja an Ostern schon wieder arbeiten,
das will ich nicht. Wie wäre es denn mit ... Hasimausi?“

„Ja“, jubelten alle wie aus einem Mäulchen, „Hasimausi hat einen Namen!“ Und vier aufgedrehte Tiere tanzten um Hasimausi herum.

„Stooopp!“, Harry war es, der die lustige Runde unterbrach und rief:

„Wenn wir schon so etwas wie Namenstag feiern, dann auch für das Eichhörnchen!“

Natürlich, das Eichhörnchen durfte nicht länger namenlos bleiben, wenn es in dieser Runde der frisch mit Namen Versehenen nicht zu kurz kommen wollte!
Es sollte jedoch nicht so einfach sein. Abkürzungen hörten sich nicht gut an oder gefielen dem Eichhörnchen nicht, etwa Eichi, Hörni und Einchen.

„Kommt nicht in Frage, so will ich nicht heißen!“ Das Eichhörnchen war eingeschnappt und das zu recht!
„Meine Mama hatte mich früher immer Ecki genannt. Ich habe mir doch als Kind an einer besonders harten Nuss ein Stück meines rechten Nagezahns abgebrochen“, gab es kleinlaut zu.
„Dann heiße ich schon lieber Ecki!“

„Ecki, Ecki!“, jubelten alle im Chor, und die Tiere tanzten und lachten, bis ihnen die Bäuche weh taten.

Siggi, Harry, Hasimausi, Lanzelot und Ecki waren an diesem Abend im Spätherbst die fröhlichsten und glücklichsten Tiere auf dem Feld nahe der Scheune.
Heute Abend ging keiner nach Hause. Sie blieben alle im Hamsterbau und schliefen gemeinsam in der warmen und weichen Kammer ein.
Nur Lanzelot musste sich etwas abseits legen, wegen der Verletzungsgefahr.

 

Räuber

 

        Der nächste Tag nach der Jahresabschluss- oder Namenstagfeier hielt für die fünf neuen Freunde eine Überraschung bereit. Sie waren es alle nicht gewohnt, so ausgiebig und lange zu feiern. Schon beim ersten Aufwachen und Öffnen der Augen spürten sie, dass etwas nicht wie immer war. Sobald sie ihre Näschen aus einem der Eingänge schoben, drangen die ersten Strahlen der Morgensonne derart tief über die Augen in ihre Köpfe hinein, dass es weh tat.

„Au, oh und ah!“, stöhnten sie, verabschiedeten sich aber, wie es sich gehört, von ihren Gastgebern und stahlen sich etwas wehleidig davon.

„Sind sie weg?“, hörte Siggi die leidende Stimme von Harry aus der Schlafkammer bis zum Eingang dringen.
„Ich habe Kopfschmerzen und möchte mich noch etwas ausruhen. Es ist ja noch nicht einmal richtig hell!“

„Okay“, antwortete Siggi,
„wir können auch später aufräumen!“

Mit diesen Worten drehte er sich um und wollte gerade die Fallröhre hinab sausen.
Da verfinsterte sich plötzlich der kreisrunde Ausschnitt des Eingangs, die Morgendämmerung war wie ausgeschaltet, und ein bedrohliches Knurren und Scharren erfüllte Eingang und Fallröhre!

„Iieh, Hilfe, Harry, hier ist etwas Böses!“, schrie Siggi aus Leibeskräften.

Er wollte sich nach unten in die Röhre werfen, spürte jedoch einen stechenden Schmerz in seinem Schwanz und fühlte, dass er festgehalten wurde. Alles Zerren und Strampeln half nichts.
Siggi nahm nicht einmal Rücksicht auf seinen verwundeten Fußballen und zappelte mit aller Kraft weiter, fürchtete jedoch das Schlimmste.

Da, urplötzlich spürte er einen kräftigen Ruck und bemerkte, dass er nach vorne stürzte.
Er hatte seinen Schwanz frei bekommen und konnte sich in die Tiefe der Wohnung retten.
In der Vorratskammer angekommen, versteckte er sich unter Teilen der Nahrung und bewegte sich nicht mehr.
Siggi zitterte wie Espenlaub,
und sein kleines Herzchen pochte wie wild.

Plötzlich hörte er vom Eingang her wildes Kreischen, Knurren,
ja sogar so etwas wie Bellen. Kampfgeräusche, kein Zweifel! Böses Zischen und sich entfernendes Quäken beendetenach einiger Zeit das laute Getümmel, und es wurde still, sehr still.
Für Siggis Dafürhalten war es vielleicht sogar zu still, sollte das Böse etwa...?

„Nein, bloß nicht, Harry, Harry!“, rief Siggi zuerst leise, dann immer lauter werdend. Jetzt hatte er richtiggehend Angst um seinen Freund.

„Ich komme, ich helfe dir!“,
schrie er in Panik und rannte so schnell ihn seine kleinen Pfoten trugen in Richtung des Eingangs, an dem er eben noch die Freunde verabschiedet hatte.
In der steilen Fallröhre rutschte er immer wieder zurück, schaffte es schließlich doch und erreichte unter Japsen die Erdoberfläche. Was das kleine Siebenschläfermännchen dort sah, ließ einen dicken Brocken von seinem Herzchen fallen.
Die Haselmaus, der Igel und das Eichhörnchen hatten sich um einen am Boden liegenden Harry gescharrt, streichelten über sein zerzaustes Fell und leckten einige Wunden sauber. Sie redeten alle durcheinander und bemerkten gar nicht den verwundert dreinblickenden Siggi, der sich zu ihnen gesellt hatte. Erst als Ecki, das Eichhörnchen, auf Siggi deutete und loskeckerte:

„Seht euch den Siggi einmal an, der ist doch bestimmt unter einen Trecker geraten!“, da drehten sich alle um und lachten erneut los.

„Was ist denn mit dir passiert?“, wollte Harry wissen, der sich auch wieder aufgerichtet hatte. Anscheinend war er nicht allzu schwer verletzt.

„Was, was ist denn los?“,
wollte Siggi wissen, „es ging alles so schnell.
Ich bin noch ganz verwirrt!“

Die Freunde berichteten ihm alle auf einmal von dem Angriff eines Mauswiesels, das sich durch eine Fallröhre Zugang zur Wohnung verschaffen wollte. Siggi hatte das anscheinend verhindert und sich ihm mutig gegenüber gestellt. Wenn die wüssten!
Bei dem Angriff, so meinten die Freunde, hatte er dann anscheinend seinen Schwanz eingebüßt.

„Ups“, entfuhr es Siggi und er schaute überrascht an sich hinunter. Und richtig, anstatt eines buschigen Schwanzes ringelte sich nur ein dünner, langer Faden im Staub.

Jetzt schauten die Freunde ängstlich drein.

„Dir muss sofort geholfen werden, sonst stirbst du womöglich noch“, stellte der Igel Lanzelot fest.

„Nein, keine Angst, Freunde“, begann Siggi zu erklären.
„Wir Siebenschläfer besitzen die Eigenschaft, nach einer Verletzung oder, wie in diesem Fall, nach einem Angriff, unsere Schwanzhaut mit den daran sitzenden Haaren abzuwerfen und somit unser Leben zu retten. Übrig bleiben die Sehnen und Muskeln. Aber, wie gesagt, keine Angst, das wächst schon wieder nach.“

„Oh, Gott sei Dank, dass es so etwas gibt, wir hätten dich sonst sehr vermisst“, meinte Hasimausi.

„Ja, in der Tat“, gab Siggi zu, „sonst wäre ich mit wehenden Fahnen untergegangen.
Aber wie habt ihr es nur geschafft, einen derart übermächtigen Feind in die Flucht zu schlagen? Erzählt mal!“

Harry leckte noch einmal seine Wunden und begann dann zu erzählen:

„Ich bin, trotz meiner beginnenden Migräne, nach deinem Hilferuf sofort durch die zweite Fallröhre nach draußen gestürmt und habe mich todesmutig auf den Angreifer gestürzt. Schon nach ein paar Attacken spürte ich jedoch, dass ich den ungleichen Kampf verlieren würde.
Ich grub meine Krallen in das Fell des Mauswiesels und biss ihm mehrmals in die Nase. Auch ich bekam etliche Wunden verpasst und konnte nach einiger Zeit nicht mehr.“

„Zum Glück haben wir, Hasimausi, Lanzelot und ich“, fuhr Ecki fort, „den Lärm gehört, der aus eurer Richtung kam. Schon aus der Ferne sahen wir die Übermacht des Mauswiesels  und stürzten uns mit aller Verzweiflung ins Getümmel. Neu gewonnene Freunde lässt man nun mal nicht im Stich!! Hasimausi flitzte dem Angreifer immer dicht vor der Schnauze hin und her und lenkte das Mauswiesel somit von Harry ab. Lanzelot setzte all seine spitzen Waffen ein und rammte sie dem Feind immer wieder in die Seite. Ich hingegen krallte mich mit Harry zusammen in das gegnerische Fell, setzte meine scharfen Nagezähne ein und biss ihm immer wieder in die Nase, bis sie blutete. Mit vereinten Kräften haben wir so dem übermächtigen Räuber den Garaus gemacht und ihn letztendlich vertreiben können!“

„Danke, Freunde“, sagte Siggi und verbeugte sich dabei bis tief auf die Erde, „ohne euch hätten wir dieses Drama nicht überlebt.
Zum Glück ist uns nicht allzu viel passiert. Harry werde ich schon gesund pflegen, und mein Schwanz wächst, wie ihr ja jetzt wisst, auch wieder nach. Also, nochmals danke! Im Frühjahr sehen wir uns hoffentlich alle gesund und munter wieder und feiern dann ein Wiedersehenfest. Macht’s gut und lebt

wohl!“

Schweigend drückten sich alle zum Abschied und machten sich auf den Heimweg zu ihrem wohlverdienten Winterschlaf.

 

Winterschlaf

 

        „Winterschlaf ist kein Zuckerschlecken und nichts für Weicheier“, erklärte Harry seinem Freund und Mitbewohner Siggi.“

„Der Herzschlag verlangsamt sich und mit ihm der komplette Stoffwechsel. Man benötigt nicht mehr so viel Nahrung und denkt auch nicht mehr über Probleme des Alltags nach.“

Siggi staunte: „Weiß ich nicht, hab ich nicht, kann ich nicht! Ich schlafe nur tief und fest,
so glaube ich, wache nach vielen Monaten wieder auf und weiß gar nicht, dass ich geschlafen habe.“

„Aber warum haben wir denn all die vielen Vorräte gesammelt“, wollte Harry wissen.

„Ich, für meinen Teil, wache jedenfalls zwischendurch immer mal wieder auf und mache mich über die leckeren Sachen her.
Das schmeckt mir in einer dunklen und stillen Winternacht besonders gut.“

Siggi gab zu: „Ich brauche ja so gut wie nichts. Ich wache maximal, wie du mittlerweile wissen müsstest, zwei Mal ganz kurz auf und nippe vielleicht einmal kurz an den Leckereien. Den Rest meiner Ration benötige ich dann gleich nach meinem Erwachen im Frühjahr.“

Die beiden Freunde waren sich in einer Sache einig, sie hatten alles Machbare zu einem guten Gelingen des langen Winterschlafs beigetragen. Jetzt musste sich jeder nur noch ein passendes Plätzchen in der geräumigen Wohnung unter der Erde aussuchen, es herrichten und sich von dem anderen verabschieden. Zu nah beieinander wollten sich Harry und Siggi denn doch nicht zur Ruhe legen, dafür hatten beide zu unterschiedliche Schlafgewohnheiten.

Sie nahmen sich in die Arme, drückten sich sehr herzlich und wünschten einander eine gute Nacht.

Ruhe senkte sich über den Feldrain, und der Winter hielt mit all seiner Kälte und Lebensfeindlichkeit für kleine Tiere Einzug.

Unter der Erdoberfläche spürte man von alldem nichts.

 

Frühjahr 

 

        Selig schlummernd lagen zwei putzige Nager zusammengerollt in ihrer unterirdischen Behausung und dämmerten der wärmeren Jahreszeit entgegen.
Von Zeit zu Zeit war Harry, der kleine Feldhamster, durch ein knurrendes Geräusch in seinem Magen geweckt worden, war leise zur nahen Vorratskammer getippelt und hatte sich ein paar Nüsse und andere Samen einverleibt. Zufrieden hatte er auf dem Rückweg einen kurzen Blick auf seinen tief schlafenden Freund Siggi geworfen, es sich in der Schlafkammer wieder bequem gemacht und war nach zwei Mal tief durchatmen sofort wieder im seligen Reich der Träume angekommen. Er dachte auch im Traum keine Sekunde an den schrecklichen Kampf mit dem Mauswiesel im Herbst, solche fürchterlichen Gedanken hatte sein Unterbewusstsein glücklicherweise verdrängt.

Siggi, das kleine Siebenschläfermännchen, hatte sich nur einmal kurz bewegt, etwas an einer neben ihm liegenden Buchecker geknabbert und war ebenfalls sofort wieder tief eingeschlummert.
Von Harrys Aktivitäten hatte er nicht das Geringste mitbekommen.

Ein paar Wochen später, der Schnee lag nur noch schwer und nass und vereinzelt in kleinen Mulden und dem Graben und bedeckte nicht mehr das ganze Feld. Auch die Luft war nicht mehr so klirrend kalt, und an manchen Tagen zeigten sich erste wärmende Sonnenstrahlen.

Harry war es, der die Veränderungen zuerst spürte.
Er wurde von einer inneren Unruhe erfasst. Sein Herzschlag erhöhte sich wieder, und ein starkes Hungergefühl gewann die Oberhand vor allen anderen Gefühlen. Der Frühling schien Einzug zu halten in die Welt der kleinen Tiere. Harry reckte und streckte sich. Dabei achtete er darauf, dass er nicht zu laut gähnte, um nur ja nicht Siggi zu wecken, der noch tief und fest schlummerte. Nachdem er sich den Bauch in der Vorratskammer vollgeschlagen hatte, machte er sich auf zu einem ersten Erkundungsgang zur Erdoberfläche.


Oben angekommen schob Harry sein Näschen schnuppernd in die Höhe. Er musste einen dünnen Schneefilm beiseite schubsen ... und wurde von den süßesten Düften begrüßt, die es nur im Frühling geben konnte!
Noch etwas verwirrt von so vielen neuen, besser wieder neuen Eindrücken, blickte er in alle Himmelsrichtungen und sog die frische Luft tief in seine Lungen hinein. Er wollte schon kehrtmachen und seinen Freund Siggi wecken.


„Halt!“, dachte er, „Siebenschläfer halten einen längeren Winterschlaf als Feldhamster. Ich lasse Siggi noch ein paar Wochen schlafen.“

In den nächsten Tagen und Wochen kümmerte Harry sich alleine um die Dinge, die getan werden mussten. Er reinigte die Kotkammer und die Gänge, entsorgte verfaulte Pflanzenreste aus der Vorratskammer und war dabei immer besonders leise, um seinen Freund nicht zu wecken.

Als alle Arbeit verrichtet war, und die Frühlingsluft langsam wärmer wurde, dachte Harry:

„Jetzt wird es aber langsam Zeit. Siggi wird doch nicht etwa verschlafen haben?“

Er schlich leise zu Siggis Schlafkammer und schielte um die Ecke. Nichts rührte sich, oder doch? Hatten nicht die Schnurrhaare des Siebenschläfers leicht gezittert? Und da, jetzt bewegte sich auch die kleine Nase etwas, als ob sie die frischen Düfte des Frühlings erahnte und dann erschnupperte, die Harry mit nach hier unten gebracht hatte.

„Siggi!“, rief Harry halblaut. „Siggi, mein Freund, wach auf, der Frühling ist da!“

Und richtig! Langsam, aber sicher kam auch Siggi aus dem Land der Träume zurück in die reale Welt. Die kleinen Krallen streckten sich, das Mäulchen öffnete sich zu einem ausgiebigen Gähnen, und dann öffneten sich die großen, schwarzen Augen und zeigten an, dass Siggi vollends erwacht war.

„Hallo, wo bin ich, was ist los?“, wollte die kleine Schlafmütze wissen.

Als Harry von ihrer neuen Freundschaft erzählt hatte und von dem gemeinsamen Winterschlaf im Hamsterbau, da strahlte Siggi wie ein riesiger, roter Lampion:

„Oh, wie schön! Ich habe so gut geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Jetzt habe ich aber einen Kohldampf, der sich gewaschen hat. Sind noch Vorräte da?“

Und ob noch Vorräte da waren!
Sie hatten im Herbst gut vorgesorgt und konnten nun vom Lohn ihrer anstrengenden Arbeit zehren. In der Vorratskammer machten sich die beiden Freunde über all die Leckereien her,
bis ihre Bäuche kugelrund waren.

„Ich kann nicht mehr“, gab Siggi zu, „ den Rest lassen wir für später übrig.“

Harry war einverstanden, und sie beschlossen, zuerst einmal einen ausgedehnten Frühlingsspaziergang an der frischen Luft zu machen.

Sie waren noch nicht weit gegangen, schon trafen sie ihre neuen Freunde vom Herbst wieder.
Da waren Hasimausi, die Haselmaus, der Igel Lanzelot und Ecki, das Eichhörnchen.
Alle hatten ihre Winterruhe oder ihren Winterschlaf beendet und freuten sich auf dieses erste Treffen im neuen Jahr.

„Wir wollten doch ein Frühlingsfest feiern, wenn
der Winter vorbei ist.“

Harry war es, der das Schulterklopfen und Küsschengeben unterbrach.

„Wir haben noch reichlich Vorräte in unserer Vorratskammer, die müssen weg, bevor sie schlecht werden.“

„Wir können uns doch heute Abend bei uns treffen und unsere Freundschaft neu begießen“, schlug Siggi vor.

Alle waren mehr als einverstanden und liefen zu ihren Wohnungen, um alles vorzubereiten und sich zurecht zu machen.

„Ich werde mich aber etwas zurückhalten mit der Lautstärke. Nicht, dass ich am nächsten Tag wieder so starke Kopfschmerzen habe, und uns das Mauswiesel vielleicht auf dem falschen Fuß erwischt. Das wäre fatal“, betonte Harry.

„Recht hast du“, pflichtete Siggi bei, „lass uns das neue Jahr besonnen angehen, dann wird es bestimmt wunderschön.“

Die beiden Freunde umarmten sich und gingen engumschlungen einer vielversprechenden Zukunft entgegen.

Das am Abend stattfindende Frühlingsfest sollte zum Höhepunkt des erst jungen Jahres werden. Noch andere Tiere aus der Umgebung fanden sich ein und trugen zu einem guten Gelingen bei. Feinde ließen sich an diesem Abend und auch in der nächsten Zeit nicht blicken.

 

Winterschlaf Teil 3

  

Zusammenleben

 

        Bei ihren ersten Erkundungsgängen in diesem neuen Jahr freuten sich die beiden Freunde Siggi und Harry über die ersten Blumen, die ihre Blüten dem blauen Himmel entgegenstreckten.
Die Zeit der Schneeglöckchen war zwar schon vorbei, dafür hatte Siggi zu lange geschlafen, aber die ersten Osterglocken zeigten schon ihre grünen Blattspitzen in der braunen Erde.
Manchmal begegneten sie auch Hasimausi, Lanzelot oder Ecki, dann wurde von den vergangenen Monaten berichtet und herzlich gelacht. Eines Tages fanden vier der fünf Freunde jeweils eine Walnussschale mit einem kleinen Blatt darin in ihrer Wohnung,
auf dem geschrieben stand: „Einladung, in zwei Tagen am Abend, bei mir, Ecki!“ Alle waren überaus erfreut darüber und fieberten dem übernächsten Abend entgegen.

„Aber, wie soll das denn gehen?“, fragte Siggi seinen Freund Harry. „Ecki hat seinen kleinen Kobel hoch oben im Baum. Da ist niemals Platz für uns alle.“

„Und denk mal an Lanzelot“, gab Harry zu bedenken, „der kann doch gar nicht auf einen Baum klettern! Da bin ich aber mal gespannt, ob Ecki daran gedacht hat.“

Am besagten Abend machten sich vier erwartungsvolle Freunde auf den Weg zu dem hohen Baum, auf dem Ecki seinen Kobel hatte. Auch Lanzelot war neugierig,
wie er das schaffen sollte.
Als sie ihr Ziel erreicht hatten, konnten sie sich davon überzeugen, dass Ecki die mangelnden Kletterkünste Lanzelots berücksichtigt hatte. Unter dem Baum, geschützt durch einen dichten
Busch, hatte er alles auf das Feinste hergerichtet. Lanzelot fiel ein Stein vom Herzen. Für jeden der fünf kleinen Tiere war ein bequemes Lager vorhanden, neben dem die feinsten Leckereien zum Naschen bereitlagen.

Das war eine Begrüßung!
Nach ausgiebigem Schulterklopfen und Küsschen hier, Küsschen da wurde zuerst einmal Siggis neuer Schwanz bestaunt.

„Es gibt doch noch Wunder auf dieser Welt“, bemerkte Hasimausi. „Er ist zwar ein bisschen kürzer, aber mir gefällt er ganau so gut wie der erste.“

„Danke, Hasimausi, damit machst du mich sehr glücklich“, freute sich Siggi.
„Aber leider muss ich, besonders dir, Harry, an dieser Stelle etwas eher Betrübliches mitteilen.“

„Aber Siggi“, wollte Lanzelot wissen, „ist etwas mit dem nachgewachsenen Schwanz nicht in Ordnung?“

„Nein, nein“, beruhigte Siggi die Freunde, „damit ist alles zum Besten. Aber mich bedrückt etwas anderes und das muss ich jetzt unbedingt loswerden.“

„Ja, aber klar doch, los, erzähl schon und mach es nicht so spannend!“, forderten alle zugleich Siggi zum Erzählen auf.

„Also gut“, begann dieser, „Harry, mein bester Freund, es tut mir sehr leid, aber ich kann nicht mehr mit dir zusammen wohnen. Ich muss ausziehen!“

„Waas?“, Harry stand das Mäulchen weit offen.
„Habe ich etwas falsch gemacht? Hast du nicht genügend zu fressen? Oder - magst du mich zu guter letzt nicht mehr?“

Dicke Tränen sammelten sich in seinen Augen.

„Nein, Harry, beruhige dich, du kannst überhaupt nichts dafür! Ich aber auch nicht!
Es ist ... wir sind einfach nicht füreinander geschaffen, wir sind zu unterschiedlich. Überleg doch mal: Ich bin nachtaktiv, muss mich also tagsüber ausruhen. Bei dir ist es zwar genau so, aber du beginnst deine Arbeit immer schon in der frühen Dämmerung! Wir kommen uns also öfters in die Quere. Wenn ich mich noch ausruhen muss, eben den ganzen Tag über, dann bist du schon wieder aktiv. Wir bekommen keine Ruhe mehr.“

Bei Harry stand das Mäulchen immer noch offen. Aber die Tränen waren zum Glück verschwunden, er hatte das Problem verstanden und die Notwendigkeit eines Umzugs für Siggi erkannt.

Trotzdem klang er ziemlich erschüttert, als er fragte:
„Aber, wo willst du denn hin, du hast doch noch keine eigene Höhle!“

„Das stimmt zwar“ antwortete Siggi, „aber im Sommer brauche ich keine Höhle, nur im Winter
für den Winterschlaf.
Ich werde wieder an meinem alten Schlafplatz wohnen, in der Nische unter dem Vorsprung des Scheunendaches. Dort habe ich mich vorher immer wohlgefühlt."

Nach dieser Nachricht wollte keiner der Fünf mehr Trübsal blasen. Es wurde nach Lust und Laune gefeiert und sogar das Tanzbein geschwungen, das funktioniert sogar bei einer Versammlung von nur Jungen, wenn auch etwas wild.
Nach einiger Zeit waren die Leckereien verzehrt, und die fünf Freunde lagen - bestimmt auch wegen der vehementen Tanzeinlagen - mit dicken Bäuchen erschöpft auf ihren Lagern unter dem Baum.

„Das müssen wir öfters machen“, „keuchte Harry, „so glücklich
und zufrieden war ich schon lange nicht mehr!“

Alle stimmten zu, und mit dem Versprechen, sich bald wieder zu verabreden, gingen sie auseinander.

 

Sommer  

 

        So war es gekommen!
Siggi war, wenn auch schweren Herzens, bei Harry ausgezogen und hatte sich wieder unter dem Dachvorsprung der alten Scheune bequem eingerichtet. Er hatte alles unzerstört, nur etwas verstaubt vorgefunden. Aber im Saubermachen war er ja mittlerweile geübt. Von hier oben aus hatte er wieder den gewohnten Überblick über
den Hof, die Brombeerhecke, das Feld in der Ferne und die nahe Streuobstwiese.

Als Siggi eines Abends die Augen öffnete und seinen Blick schweifen ließ, war der Sommer schon etwas fortgeschritten.
Ein herrlicher Sonnenuntergang breitete sich in der Ferne aus.
Es kam Siggi so vor, als hätte ein Maler mehrere Farbeimer über die Landschaft ausgeleert.
Er konnte sich nicht sattsehen
an den wunderbaren Farben! Staunend wollte er

dieses Wunder noch etwas genießen, bevor er wieder auf Nahrungssuche gehen musste.

Doch ein jäher Aufschrei ließ ihn aufschrecken. Der kam vom Feldrand und konnte nur etwas mit seinem Hamsterfreund Harry zu tun haben. Und richtig! So schnell ihn seine kurzen Beine trugen kam Harry auf die alte Scheune zugerannt und schrie aus Leibeskräften:

„Hilfe, aus und vorbei, jetzt ist alles dahin! Ich bin verloren, zu Hilfe!“

Erschrocken verließ Siggi seinen Schlafplatz, kletterte an der steilen Wand nach unten und eilte seinem Freund entgegen.

„Was ist!“, rief er. „Hat dich der Fuchs erwischt? Erzähl schon!“

„Nein, viel schlimmer! Alles aus und vorbei, mein Leben ist ruiniert! Komm mit! Das Unglück ist zu gewaltig, das kann man nicht beschreiben.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und war schon wieder auf dem Weg zum Feld. Siggi konnte ihm kaum folgen und kam erst kurz nach Harry japsend am Feldrand an. Was er dort sah, ließ ihn kräftig zusammenfahren. Riesige Erdbrocken lagen zu Bergen aufgetürmt auf dem Feld und waren sogar in den Graben gerollt.

Harry stand ganz aufgeregt zwischen zwei Erdbrocken und keuchte:
„Siehst du jetzt, was ich meine? Das kann man nicht mit Worten beschreiben, das muss man gesehen haben, so ungeheuerlich ist das!“

Als Siggi antworten wollte, wurden seine Worte von dem Lärm einer gewaltigen Maschine erstickt. Baumhohe Räder und Eisenscheiben, groß wie ganze Büsche rollten über das Feld.
Der Lärm war wesentlich lauter als das, was beim Abernten des Feldes zu hören gewesen war.
Nun zermalmten die großen Räder jeden Zentimeter des Stoppelfeldes, und die Eisenscheiben drangen tief ins Erdreich ein und zerstörten alles, was ihnen in die Quere kam.
Auch Harrys Hamsterbau mit all seinen Kammern und Röhren wurde dem Erdboden gleich gemacht, nichts blieb, wie es mal war.

„Und ich hatte mir so viel Mühe gegeben“, heulte Harry, „alles für die Katz!“

„Du hast ja recht“, versuchte Siggi zu trösten, „aber nun lass mal schön die Katze aus dem Spiel. Das fehlte noch, jetzt, wo du keine Bleibe mehr hast!“

„Jaahahaha!“ Harry heulte jetzt Rotz und Wasser.
„Was soll ich nur machen?“

„Wir werden schon etwas für dich finden, ich und deine anderen Freunde. Wenn man Freunde hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten!“, versprach Siggi.

Harry stutzte und war etwas abgelenkt von seinem Unglück.

„Der Spruch ist doch nicht von dir! Den habe ich doch neulich erst gehört, als wir am Fenster der Kinder auf dem Bauernhof gelauscht hatten!“

„Richtig, mein Freund“, meinte Siggi, „und solche Sprüche braucht man manchmal, um seine Freunde etwas aufzuheitern.“

Nach dieser Klarstellung machten sie sich, nachdem sie den anderen Bescheid gegeben hatten, auf die Suche nach einer passenden Behausung für Harry.

Die fünf Freunde waren eifrig bei der Sache. Schon nach kurzer Zeit hatten sie einige Objekte gefunden, die alle von Harry begutachtete wurden.
Dabei waren verlassene, alte Hamsterbauten, Wühlmaus-, Maulwurf- und Kaninchenbauten, sogar verlassene Wohnungen von Fuchs und Marder. Aber nichts Passendes war zu finden.
Zu alt, zu klein, zu schmutzig, nicht ausbaufähig, keine gute Lage, zu weit weg! Zu allen Objekten hatte Harry etwas zu meckern. Als sie schon aufgeben wollten und zum Schluss gemeinsam unterwegs waren, versank Lanzelot plötzlich mit einem Bein in einer kleinen Höhle, die unter angewehten Blättern versteckt lag. Die Lage war auch perfekt und gefiel Harry auf Anhieb, sie lag
unter den vorstehenden Wurzeln eines alten Apfelbaumes am Rande der Streuobstwiese.

„Das ist es!“, stieß Harry begeistert hervor.
„Es ist nicht allzu weit von euch entfernt, und ich habe im Herbst reichlich zu fressen. Das heruntergefallene Obst wird von vielen Insekten aufgesucht, die sich daran laben wollen!
Und wir können uns dann an den Insekten oder am Obst laben! Auch Gräser und Blüten gibt es hier genug.“

Alle lachten und waren sehr zufrieden, dass das lange Suchen endlich ein Ende hatte. Gemeinsam machten sie sich an die Arbeit und richteten Harrys neue Wohnung provisorisch ein,
damit er erst einmal eine trockene Unterkunft hatte. Selbst Siggi konnte kräftig mit buddeln, seine verwundete Pfote war wieder ganz die alte. Alle Tiere versprachen, am nächsten Tag wieder vorbeizuschauen und bei den restlichen Arbeiten zu helfen.

Als Harry alleine war, bahnte sich ein tiefer Seufzer seinen Weg aus seiner Kehle.

„Wenn man Freunde hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten“, wiederholte er halblaut Siggis Spruch und musste schmunzeln. „Auch nicht vor der Zukunft!“

Einige Gänge und Kammern des verlassenen und nun neu bezogenen Baues mussten etwas erweitert werden. Anscheinend waren der oder die Vorbesitzer kleiner als Harry gewesen.
Aber das hatte der fleißige Feldhamster schnell erledigt. Nach seinen anschließenden, nächtlichen Pirschgängen lief er bis in die hinterste Kammer und beschloss, dort ein ausgiebiges Nickerchen zu machen.

 

 Streuobstwiese    

 

        Der nächste Tag hatte für Harry gleich zu Beginn eine Überraschung bereit.
Er steckte sein Näschen aus einem Eingang hinaus, schnupperte und erkundete so die nähere Umgebung nach Gefahren.
Als er nichts feststellte, kletterte er ganz hinaus und reckte und streckte sich in der frischen Luft.

„Heh, wen haben wir denn da?
Was bist du denn für ein lustiger Geselle?“, hörte er plötzlich eine neugierige und zugleich vorwurfsvolle Stimme.
Er drehte sich um und sah eine Maus, die vorsichtig hinter einer Baumwurzel hervor lugte.

„Ich weiß zwar, dass der Wohnungsmarkt heutzutage heiß umkämpft ist, aber darum musst du ja nicht gleich zum Hausbesetzer werden“,
meinte der kleine Nager.

„Nun mal langsam“, wehrte Harry sich, „ich habe diese verlassene Höhle mit meinen Freunden gefunden und wieder instandgesetzt. Sie machte den Eindruck, als ob sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr bewohnt und demnach verlassen wäre.“

„Das mag ja sein“, entgegnete die Maus, „aber sie gehört zu einem ganzen Komplex von Immobilien, die alle mir und meiner Familie gehören. Bei so vielen Objekten kann man sich nicht um alles zugleich kümmern, und da bleibt schon mal etwas unbenutzt liegen. Ich möchte dich also dringlichst bitten, auf der Stelle den Bau ...!“

Weiter kam die Maus nicht,
denn Harry richtete sich zu voller Größe auf und donnerte los:

„Jetzt mach mal halblang!
Du bist anscheinend Großgrundbesitzer und kannst bestimmt auf eine so jämmerliche Wohnung verzichten. Ich hingegen bin untergepflügt und kleingeeggt worden. Das ich noch mit dem Leben davon gekommen bin, ist ein Riesenglück. Also, bestell deiner Familie einen schönen Gruß von mir und mach dich vom Acker!“

Das hatte gesessen!
Die Maus wurde ganz kleinlaut, drehte sich ängstlich um und tippelte von dannen.

Wenn Hamster sich zu voller Größe aufrichten, dann zeigt ihre Unterseite eine Musterung
und Färbung, die wie ein weit aufgerissenes Maul mit riesigen Zähnen aussieht. Bei diesem Anblick bekommen sogar viel größere Tiere als der Hamster es mit der Angst zu tun und nehmen Reißaus! Zufrieden mit sich selbst machte sich Harry an die weitere Erkundung der Umgebung.

In den nächsten Tagen war die Streuobstwiese der liebste Tummelplatz für die fünf Freunde. Tagsüber war es verhältnismäßig ruhig, da war höchstens manchmal der Bauer mit seinen Kindern aktiv, sie sammelten Fallobst und schauten nach den Bäumen. Aber bereits in der frühen Dämmerung ging das muntere Treiben wieder los.

Der Igel Lanzelot machte sich über einen reichlich mit Regenwürmern, Spinnen und Insekten gedeckten Tisch her. Auch Mäuse und Frösche verschmähte er nicht.

Siggi, der Siebenschläfer, tat sich an den Knospen, Blättern Trieben und Früchten gütlich.

Feldhamster Siggi fraß zwar am liebsten Feldfrüchte, bediente sich aber auf der Wiese ebenfalls bei den Kräutern, Gräsern und Insekten.

Die winzige Haselmaus, Hasimausi, vertilgt so ziemlich alles, was ihr vor die Zähne kam und schlürfte auch gerne Vogeleier.
Dabei bewegt sie sich meist auf Bäumen und vermeidet Bodenkontakt.

Auch Ecki, das Eichhörnchen, war ein begnadeter Kletterer.
Und so war es nicht verwunderlich, dass er sich nicht davor scheute, neben Baumfrüchten, Kernen und Samen auch einmal einen Kleinvogel
zu fangen oder Vogeleier zu stibitzen.

Heute war wieder so eine Fressparty angesagt.
Alle Tiere waren in ihrem Element und hatten Spaß ohne Ende. Hasimausi und Ecki bewegten sich oben auf den Bäumen und suchten nach Früchten, die schon etwas angeschlagen oder besser angenagt waren. Diese ließen sich leichter vom Ast trennen,
wurden mit ein paar Bissen gelöst und fielen zu Boden. Unter dem Baum warteten die übrigen Freunde und machten sich über die leicht erreichbare Nahrung her. Hasimausi und Ecki achteten darauf, dass sich in den angefressenen Früchten nach Möglichkeit noch Maden oder Insekten befanden. Das waren
für die Freunde unter dem Baum zusätzliche Leckerlis. Selbst die kleine Maus, die Vorbesitzerin von Harrys neuer Behausung, wurde nicht vertrieben und durfte am fröhlichen Treiben teilhaben.

 

Gefahren

 

        Plötzlich war ein keckerndes Schimpfen und Warnen aus dem großen Birnenbaum zu hören:

„Freunde!“, rief Ecki aus Leibeskräften. „Macht, dass ihr wegkommt, ein Fuchs ist im Anmarsch!“

Alarmstufe rot!

Ein Fuchs bedeutete äußerste Gefahr für die Freunde.
Jeder ließ fallen, was er gerade in den Pfoten hatte und suchte sich so schnell er konnte ein Versteck.
Ecki und Hasimausi kletterten in die Spitze des Birnenbaums und beobachteten das Geschehen von da aus. Sie waren dort oben vor dem Fuchs in Sicherheit.
Auch Siggi schaffte es noch auf den nächsten Baum. Harry rannte zusammen mit der Maus zu seinem Bau, der zum Glück in der Nähe war. Sie ließen sich flugs in eine Fallröhre plumpsen und verschwanden in der hintersten Kammer. Die Maus als Vorbesitzerin kannte sich dort noch bestens aus. Nur Lanzelot hatte Probleme, dem Fuchs rechtzeitig zu entkommen.
Für seine Figur konnte er sich zwar recht schnell bewegen, aber so sehr er sich auch abmühte, es reichte nicht bis zu einer ausreichenden Deckung. Lanzelot war dem Fuchs ausgeliefert - oder doch nicht?! Kurz bevor der Fuchs ihn erreichte, zog er seine Beine, seinen Bauch und sein Gesicht
in seine stachelbewährte Haut zurück und rollte sich zu einer runden Kugel zusammen.
Von allen Seiten waren nur noch seine spitzen Stacheln zu sehen.

Der Fuchs stoppte vor dieser wundersamen Kugel und wunderte sich über die plötzliche Verwandlung. Was sollte er machen? Wie konnte er diese Festung knacken? Er schnüffelte an der Kugel, zuckte aber sofort zurück, als er einen Stachel mit der empfindlichen Nase berührte. Sobald der Feind näher kam, bewegte Lanzelot sich unter seiner Stachelhaut und setzte somit seine wirkungsvollen Waffen ein. Auch ein Stupsen mit den Krallen der Pfoten war für den Fuchs nicht von Nutzen.
Die komische Kugel rollte nur ein Stück weiter, blieb dort liegen und war genauso unangreifbar wie zuvor. Nach einiger Zeit und vielen kleinen schmerzhaften Stichen gab der entgeisterte Fuchs auf und trollte sich.

„Er ist weg, er ist weg“, hörten die Freunde in ihren Verstecken den keckernden Ecki von dem Birnenbaum, vergewisserten sich selbst und kamen alle vorsichtig wieder ans Tageslicht.
Als sich die Freunde sicher fühlen konnten, beglückwünschten sie Lanzelot zu seinem glorreichen Sieg über den übermächtigen Feind.
Alle waren heilfroh über den glücklichen Ausgang dieser gefährlichen Unterbrechung
ihrer Party.

„Wir müssen etwas tun“,
meldete sich Siggi zu Wort,
„so geht es nicht weiter!
Unser Leben ist täglich in Gefahr. Wir sind klein, schwach und unseren übermächtigen Feinden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Lasst uns eine Versammlung abhalten und über unsere Probleme reden.
Ich schlage vor, dass wir uns bei Lanzelot treffen, der ist ein mutiger Vertreter unserer kleinen
Minderheit und kann uns bestimmt Mut machen.“

Natürlich waren alle mit diesem Vorschlag mehr als einverstanden. Selbst die Maus, die ja eigentlich eine Fremde war, wurde zur Versammlung eingeladen.

Lanzelot räusperte sich und verkündete:

„Jawohl, ihr seid alle herzlich eingeladen, morgen Abend diese wichtige Versammlung in meinem Domizil abzuhalten. Jeder von euch soll sich vorher schon einmal Gedanken machen, was er vorbringen möchte. Ich, für meinen Teil, lade euch noch einmal herzlich dazu ein und werde für die nötige Verpflegung sorgen.“

Alle Freunde, jetzt sechs an der Zahl, schüttelten sich die Pfoten und schworen sich gegenseitig,
am morgigen Abend das Problem der Gefahren für kleine Tiere ausgiebig zu besprechen.

 

Versammlung  

 

        Am nächsten Abend sah man ein paar verschlafene Tiere, die sich mit rauchenden Köpfen auf den Weg zum Igel  Lanzelot machten. Alle hatten in ihrer Ruhephase versucht, so viele Gefahrenpunkte zusammen zu tragen, wie ihnen einfielen.
Noch müde, aber trotzdem hochmotiviert erreichten sie Lanzelots Wohnstätte und hießen sich gegenseitig herzlich willkommen. Lanzelot, als Gastgeber, bewirtete alle sehr zuvorkommend, und die Versammlung sollte beginnen.
„Aber“, Siggi schaute in die Runde, „wo ist denn Harry? Hat den schon jemand gesehen?“
Alle verneinten und wurden wegen Harrys Abwesenheit doch etwas unruhig. Es war hoffentlich nichts Schlimmes passiert? Harry war sonst immer pünktlich!

Im gleichen Moment stürmte ein überaus verwirrter Harry an den Versammlungsort und versuchte, den anderen zu erklären,
was passiert war:

„Ihr ... glaubt es... nicht, ihr glaubt nicht, was mir gerade passiert ist!“, stieß er stockend hervor. „Gut dass wir diese Versammlung einberufen haben. Ich habe gerade die allergrößte Gefahr mit Ach und Krach überlebt!“

Die übrigen Freunde schauten sich verdattert an.

„Was war denn? Beruhige dich erst einmal und berichte dann in Ruhe von deinem Erlebnis!“

Harry nahm einen Schluck Wasser, setzte sich aufrecht hin und fing an: „Also, ich war gerade einen Meter von meiner neuen Wohnung entfernt und auf dem Weg zu euch, als sich plötzlich
der Himmel über mir verfinsterte. Ein gefährlicher Rotmilan stieß aus dem Nichts herab und wollte mich fangen. Im letzten Moment,
ich spürte schon seine spitzen Krallen in meinem Nackenfell, konnte ich mich umdrehen und in die Fallröhre werfen. Darin war es stockfinster, denn der Feind saß mit ausgebreiteten Schwingen direkt über dem Eingang und stieß mit seinem furchterregenden Schnabel immer wieder hinein. Dabei ertönte das schrecklichste Krächzen, das ich je in meinem Leben gehört habe. -
Ich kann nicht mehr!“

Harry fing erneut an zu zittern und ließ sich zu Boden fallen.

„Nun beruhige dich erst einmal“, meinte sein Freund Siggi, „und lass dich von uns wieder aufpäppeln!“

Alle Freunde kamen der unausgesprochenen Aufforderung nach und kümmerten sich fürsorglich um Harry.

„So, jetzt müssen wir aber anfangen“, erinnerte Lanzelot, „sonst sitzen wir morgen früh noch hier und haben nichts erreicht!“

Recht hatte er, und Ecki ergriff als Erster das Wort:

„Meine lieben Freunde und Leidensgenossen! Gefahr ist das Thema unserer heutigen Versammlung. Wie wir eben gerade erfahren durften, hat jeder von euch bestimmt schon einmal eine oder mehrere Gefahren überstanden, sonst wäret ihr nicht hier. Die größten Probleme habe ich persönlich mit Greifvögeln, wie dem Rotmilan, und besonders mit den vielen Katzen hier auf dem Bauernhof. Die Katzenpopulation in dieser Gegend nimmt langsam Überhand!“

„Das sind in erster Linie auch meine Probleme“, meldete sich Hasimausi. „Dazu kommt noch die Wohnungsnot. Die Menschen mögen anscheinend keine Bäume und Sträucher mehr in ihren Gärten, nur noch Blumen und Rasen. Das ist für uns Baumbewohner äußerst ungünstig.“

„Genau“, räusperte sich Siggi,
„das kann ich nur bestätigen, „aber zum Glück kann ich auch an glatten Wänden hochkrabbeln
und meine Wohnungen dort oben unter den Dächern suchen.“

„Ich habe es auch nicht gerade einfach“, meinte Lanzelot.
„Die aufgeräumten Gärten der Menschen bieten für uns Igel kaum noch Verstecke. Dabei sind wir doch gerade für die Menschen so nützlich. Wir fressen die Schnecken auf, die sich über ihre Blumen hermachen. Weiter habe ich, wie ihr wisst, große Probleme mit Füchsen und Hunden.“

„Das ist ja alles sehr schlimm!“ Harry hatte sich etwas beruhigt und konnte wieder normal sprechen. „Ich habe euch von dem Angriff des Rotmilans berichtet. Das passiert mir immer öfters. Ich laufe schon wie ein
Hans-guck-in-die-Luft durch die Gegend, nur um vor etwaigen unliebsamen Überraschungen aus der Luft sicher zu sein.
Der Bauer sollte nach der Ernte das Stoppelfeld nicht sofort untergraben. Ich habe dann keine Deckung mehr und bin für den Rotmilan, im wahrsten Sinne des Wortes, ein gefundenes Fressen!“

Harry schüttelte sich, so aufgeregt war er.

„Harry, wie kannst du nur so etwas sagen“, empörte sich Siggi.

„Ja, ist doch wahr“, fuhr Harry fort, „außerdem gibt es kaum noch Hecken an den Feldrändern oder ungenutzte Ackerrandstreifen, in denen man sich verstecken kann. Der Bauer soll Blütenpflanzen wie etwa Luzerne anpflanzen,
sonst wandere ich aus.“

„Ich“, meldete sich die Maus mit fiepender Stimme zu Wort, „ich bin zwar nur als Gast hier, möchte aber trotzdem sagen,
dass ich mich den Ausführungen meiner Vorredner voll und ganz anschließe. Eines ist aber noch nicht angesprochen worden. Heutzutage spritzen die Bauern viel zu viel Gift auf die Felder. Von meiner Großfamilie sind schon einige Mitglieder deswegen zugrunde gegangen.
Traurig, traurig!“

Es wurde still in der Runde.
So viele schlimme Dinge waren erzählt worden, und jeder hing seinen eigenen trüben Gedanken nach.

 

Zukunft

 

        „Freunde!“, Lanzelot war es, der die betretene Stimmung und das Schweigen der kleinen Versammlung unterbrach.
„Ihr habt gehört, dass viele von uns den gleichen schlimmen Gefahren ausgesetzt sind, Gefahren, die für den Untergang unserer Art von großer Bedeutung werden könnten. Wir, jeder einzelne von uns, sind zu schwach, um uns selbst helfen und schützen zu können. Einige von uns stehen bei den Menschen bereits auf einer roten Liste, was bedeutet, dass es von ihnen nur noch wenige Exemplare in diesem Land gibt.“

„Was können wir tun? Wer kann uns Schwachen denn helfen?“, riefen alle durcheinander.

„Viel können wir selbst nicht tun“, erklärte Lanzelot mit bedauernder Miene. „Eigentlich bleibt uns nur noch zu hoffen, hoffen, dass die Stärkeren sich für unsere Belange einsetzen. Dann könnten wir vielleicht ein wenig Erfolg haben.“

„Aber, wer sind denn die Stärkeren, auf wen sollen wir hoffen?“

Siggi ergriff das Wort:
 „Die Stärkeren, das sind die Menschen, die müssen zur Einsicht und zur Vernunft kommen!
Nur in ihren Händen liegt unser Überleben. Ich möchte ihnen am liebsten zurufen: Lasst die Stoppelfelder einige Zeit brach liegen, sie bieten uns Nahrung und Deckung! Kümmert euch um die noch vorhandenen Streuobstwiesen und pflegt sie! Pflanzt neue Hecken und Büsche an und lasst das abgeschnittene Totholz liegen, wir brauchen es als Unterschlupf! So, jetzt bin ich fertig, obwohl es noch so viel zu sagen gäbe.“

Mit großen Augen schauten alle Tiere Siggi an, und nach einem Moment der absoluten Stille brach tosender Beifall los.

Angespornt durch die Freunde redete Siggi weiter:
„Lasst es uns so machen,
wie Lanzelot und Harry vorgeschlagen haben. Lasst uns die Hoffnung nicht aufgeben und glauben, dass die Menschen, die sehr viel für uns tun können, zur Vernunft kommen!
Wir werden nicht aufgeben!
Bei jeder Gelegenheit werden wir ihnen vor Augen führen, wie es um unser Weiterleben bestellt ist. Die Menschen brauchen uns genauso, wie wir sie!“

Die kleine Versammlung war begeistert und feierte nach dieser langen Rede von Siggi noch ein wenig weiter, dieses Mal aber nicht so ausgelassen wie sonst immer. Ihre Zukunft sah doch etwas düster aus, und aus eigener Kraft konnten sie nicht viel bewirken.

 

 

Winterschlaf Geschichten 4 Menschen

Der Bauernhof

         Tim und Emily lebten gemeinsam mit ihren Eltern, Oma Lina, Hofhund Mira und mehreren Katzen auf einem kleinen Bauernhof. Neben dem Haupthaus stand nur noch eine alte, etwas baufällige Scheune, in der ein altersschwacher Traktor und ein paar landwirtschaftliche Geräte aufbewahrt wurden. Ställe gab es schon lange nicht mehr, da keine großen Tiere mehr auf dem Hof lebten. Tims und Emilys Eltern bewirtschafteten ein paar abseits der Scheune liegende Getreidefelder. Oma Lina kümmerte sich hauptsächlich um den Haushalt. Eine große, verwilderte Streuobstwiese, die hinter einer dichten Brombeerhecke begann,  gehörte ebenfalls zu ihrem Anwesen.

Tim und Emily gingen in der nahen Grundschule in die dritte und vierte Klasse. Nach Erledigung der Hausaufgaben waren der kleine Bauernhof und die nähere Umgebung ihr liebster Spielplatz. Sie liebten es, mit Mira und den Katzen herumzutollen und durch das Gras unter den Obstbäumen zu streifen. Dort entdeckten sie immer wieder viele interessante Dinge.

 

Emilys Entdeckung

         Jetzt waren erst einmal Herbstferien, und sie hatten wieder zwei Wochen Zeit zum Spielen.

„Komm mit, das musst du dir ansehen!“

Emily war in Tims Kinderzimmer gestürmt und fuchtelte aufgeregt mit den Armen.

„Was gibt es denn so aufregendes? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“, beschwerte sich Tim und ließ gerade den roten Ferrari mit dem Polizeiauto zusammenstoßen.

„Du und deine Autos“, lachte Emily, „es gibt wichtigere Dinge, die du dir unbedingt ansehen musst. Lebende Tiere zum Beispiel!“

Sie wusste, womit sie ihren Bruder locken konnte. Lebende Tiere interessierten ihn über alle Maßen. Und damit waren nicht nur Mira und die Katzen gemeint.

„Waas, lebendige Tiere?“, fragte Tim ungläubig. „Hast du wieder welche entdeckt?“

Er sprang auf, kümmerte sich nicht weiter um den Unfall der beiden Spielzeugautos und rannte hinter seiner Schwester her.
Das wirkliche Leben war doch das Interessanteste, was es für die beiden Geschwister gab!

        Schon an der Haustür hatte Tim seine Schwester eingeholt. Emily stellte sich ihm in den Weg, zeigte mit dem Zeigefinger zur Scheune und flüsterte:

„Leise, jetzt müssen wir leise sein, sonst wecken wir ihn auf!“

„Wecken wen auf?“, wollte Tim wissen. „Mira liegt doch in der Küche bei Oma Lina und döst.“

„Ach, die meine ich doch nicht“, flüsterte Emily wieder.
„Schau mal nach oben, unter dem Dachvorsprung der Scheune ist ein Nest oder etwas Ähnliches zu erkennen. Da hat sich ein kleines Tier ein Lager gebaut.“

Und richtig, wenn man genau hinsah, erkannte man ein paar Strohhalme, die unter einem Balken hervor lugten. Mehr war von hier aus nicht zu erkennen.

„Ich glaube“, meinte Tim, „dass wir aus dem Fenster in deinem Kinderzimmer einen besseren Blick darauf werfen können!“

Genauso war es dann auch.
Vom Fenster in Emilys Zimmer sahen sie auf dem Balken der alten Scheune ein richtiges kleines Lager aus Stroh und anderem Material. Auf dem Lager hatte sich ein kleines Etwas zusammengerollt. Doch die beiden Kinder konnten nicht genau erkennen, was es war.

„Ich frage, ob wir Papas Fernglas haben dürfen“, sagte Tim, „dann können wir mehr sehen.“

Schon war er nach unten verschwunden und kam sogleich mit dem Fernglas zurück.

„Ich sehe ihn, ich sehe ihn!“, rief Tim aus. „Es ist ein kleiner Siebenschläfer, der sich da oben ausruht.“

Auch Emily erkannte das Tier sofort als Siebenschläfer.
Mit den Lebewesen auf ihrem Bauernhof kannten die beiden sich sehr gut aus. Auf dem Gebiet waren sie richtige Naturdetektive.

„Lass uns nach unten gehen und nachsehen!“, meinte Emily.
„Da müssen wir doch Spuren finden.“


Leise schlichen sie zur Scheune und suchten unter dem Balken, auf dem sie das Lager entdeckt hatten, den Boden ab.
Sie brauchten nicht lange zu suchen. Ihren geübten Augen entgingen nicht die winzigen, abgeknabberten Schalen von Bucheckern, die der Siebenschläfer vertilgt hatte. Auch andere Schalenreste waren zu erkennen.

„Den müssen wir in den nächsten Tagen genauer beobachten“, schlug Tim vor. „Wenn die Tage demnächst kälter werden, dann wird er sich bestimmt eine Nisthöhle buddeln, um den Winter zu überstehen.“

„Genau, das machen wir“,
war Emily hellauf begeistert.
„Und ich werde mir Notizen machen und Bilder davon malen, damit wir nach den Ferien den Kindern in der Schule davon berichten können.“

Tim war natürlich einverstanden, er würde seine Schwester nach besten Kräften unterstützen.
Nur aufschreiben müsste Emily alles selbst, Tim traute seinen Rechtschreibkünsten nicht so ganz. Dafür war er der bessere Sammler und konnte tolle Pressbilder von Pflanzen anfertigen. Auf diese Art und Weise waren beide Kinder zufrieden.

Als Emily und Tim an diesem Abend, nach der von Oma Lina vorgelesenen Gute-Nacht-Geschichte, in ihren Betten lagen, ließen sie ihre Türen auf und unterhielten sie sich noch lange über den Siebenschläfer als willkommener Gast auf ihrem Bauernhof. Die Geräusche,
die sie in dieser Nacht auf dem Dachboden hörten, machten ihnen überhaupt keine Angst.
Sie wussten natürlich, dass der kleine Nager ein nachtaktives Tier war und sich seine notwendige Nahrung nachts suchte.

„Schlaf gut, mein kleiner Freund“, dachte Emily noch und war kurz darauf tief eingeschlafen.
Ob auch Tim von ihrem neuen Freund träumte?

 

Mehr Entdeckungen

 

        Am nächsten Tag, beim Mittagessen, fragte Emily ihren Bruder Tim:

„Sag mal, hast du Lust, nachher mit mir auf die Pirsch zu gehen?“

Wenn Emily das Wort Pirsch in den Mund nahm, dann hatte sie etwas ganz Besonderes vor, so gut kannte Tim seine Schwester.

„Tu nicht so geheimnisvoll!
Was hast du vor, erzähl mal!“, wollte Tim wissen.

„Halt, halt“, unterbrach Mutter die Kinder, „zuerst einmal wird zu Ende gegessen, und mit vollem Mund spricht man nicht!“

„Ja, Mama, ich weiß“, nuschelte Emily mit einem Stück Kartoffel im Mund. „Es ist nur, weil ...“
Weiter kam sie nicht. Ein strenger Blick ihrer Mutter wies sie in ihre Schranken.

„Später, mein Kind“, beschwichtigte Oma Lina und schaute ihre Enkelin liebevoll an.

Tim hielt sich aus dieser Diskussion raus. Sie hatten ja Ferien, und er wusste, dass die Fantasie seiner Schwester schon etwas Spannendes für sie bereit hielt.

Und so war es dann auch.
 Nach dem Mittagessen nahm Emily ihren Bruder an die Hand und führte ihn ungeduldig in den Hof.

„Was gibt es denn so dringendes?“, wollte Tim nun endlich wissen.

„Du glaubst nicht, was ich entdeckt habe“, begann Emily geheimnisvoll.
„Hinten, beim Feld, habe ich den Bau eines Feldhamsters entdeckt. Der ist vielleicht putzig!
Wir müssen ihn unbedingt beobachten, das wird lustig!“

„Wow“, staunte Tim über den Entdeckergeist seiner Schwester, „dann müssen wir uns ja schon um zwei Tiere kümmern. Wir dürfen den Siebenschläfer nicht vergessen!“

„Natürlich tun wir das nicht“, bestätigte Emily vorwurfsvoll.

„Alle Tiere fangen bald mit ihren Wintervorbereitungen an. Komm, ich zeige dir den Bau.

Die beiden Kinder rannten zum nahegelegenen Feld, sprangen in den Graben, der das Feld umgab und legten sich an der Böschung auf die Lauer. Zum Glück hatte ihr Vater bei der letzten Ernte eine schmale Reihe Halme stehen lassen. Sie brauchten auch nicht lange zu warten, da bewegten sich ganz in ihrer Nähe wie von alleine ein paar Getreidehalme.
Zum Vorschein kam ein kleiner Feldhamster, der sich beide Backen vollgestopft hatte.
Dabei sah er fast so aus wie Mutter, wenn sie mit beiden Händen dicke Einkaufstaschen schleppte. Die Kinder hielten den Atem an, so nahe waren sie einem Hamster noch nie gekommen. Jetzt richtete dieser sich auf seine Hinterbeine auf und schnupperte in die Runde.
Ob er sie bemerkt hatte?
Wenn er da so aufrecht stand und seine Unterseite zeigte, die wie ein aufgerissenes Maul aussah, konnten andere kleine Tiere es schon mit der Angst zu tun bekommen.

Doch ihr Hund Mira hätte keine Angst vor diesem Anblick.
 Sie hätte den Hamster bestimmt vertrieben. Zum Glück war sie mit Vater unterwegs auf der anderen Seite des Feldes.
Tim und Emily waren begeistert. Das war ein Erzählthema für die Schule! Plötzlich ertönte zweimal ein heller Schrei aus der Luft.
Der Hamster war sofort wieder auf allen Vieren und verschwand im Nu unter der Erdoberfläche. Hier, direkt vor ihnen auf dem Feld, musste also sein Bau sein!
Jetzt erst atmeten die beiden Geschwister tief durch und schauten sich stolz an.
Das war ein tolles Erlebnis!

„Jetzt müssen wir uns aber auf den Heimweg machen“, schlug Tim vor, „es wird schon gleich dunkel und Oma wartet mit dem Abendessen.“
Emily war einverstanden, und die Beiden machten sich auf in Richtung Bauernhof.

Als sie gerade an der Streuobstwiese vorbeigingen, zog Tim seine Schwester fest
am Ärmel zurück.

„Aua, du tust mir weh“,
nörgelte Emily, „was soll das?“

„Pst!“, zischte Tim und hielt ihr den Mund zu.

„Sieh mal da vorne!“

Tim zeigte mit dem Finger zur Brombeerhecke hinüber. Und dort sah Emily ihn auch. Ein großer Igel stolzierte auf hohen Beinen eiligst durchs Gras und auf die Hecke zu.

„Der hat dort bestimmt sein Lager“, meinte Tim, „lass uns nachsehen!“

„Aber es ist schon spät, wir kriegen bestimmt Ärger!“

Aller Einwand von Emily half jedoch nichts. Tim war schon auf dem Weg zur Hecke, und Emily folgte leise hinterher.

Sie mussten einige Zeit regungslos auf der Stelle stehen bleiben und lauschen, bis sich unter ein paar Zweigen, in einem Blätterhaufen, etwas bewegte. Die Geschwister schlichen näher heran -
und ein aufgeschreckter Igel lief fauchend davon.

„Fass nichts an und lass uns gehen!“, schlug Emily vor.
„Wir wissen ja jetzt, wo er wohnt und können ihn bei Gelegenheit wieder beobachten.“

Später, beim Abendessen, hatten die beiden Kinder kaum Zeit genug, ihren Kakao zu trinken,
so viel hatten sie von ihrem abwechslungsreichen Ferientag zu erzählen.
Ihre Beobachtungsliste wurde immer länger.

 

Vorbereitungen

 

        Am nächsten Morgen, am Frühstückstisch, wollte Vater von seinen beiden Kindern wissen:

„Na, ihr beiden, habt ihr heute schon was Wichtiges vor?“

„Öh, äh“, drucksten Tim und Emily herum. Wenn Vater so direkt fragte, hatte das bestimmt nichts Gutes zu bedeuten. Auf dem Hof gab es immer Arbeit genug.

„Ich könnte eure Hilfe gebrauchen“, kam Vater mit seinem Anliegen heraus.

„Wie ihr sicherlich schon bemerkt habt, ist der Winter mit Riesenschritten im Anmarsch.
Und nicht nur eure kleinen Freunde, die Tiere, müssen sich auf die kalte Jahreszeit vorbereiten, sondern auch wir Menschen. Ich, für meinen Teil, werde nachher Kaminholz schneiden und hacken, da brauche ich jemanden beim Stapeln der Holzscheite. Das machte ihr doch bestimmt gerne! Die Birke, die ich letzten Monat gefällt habe,
liegt noch hinter der Scheune.“

„Na ja, gerne ...“, wollte Tim gerade einwenden, da traf ihn ein ermahnender Blick von Mutter. „Natürlich machen die beiden das gerne“, sagte sie und das Thema war für sie erledigt.

„Ich brauche demnächst auch noch eure Hilfe“, nahm Oma Lina das Thema wieder auf.
„Wir müssen noch alles Obst von der Streuobstwiese aufsammeln. Ich will es einkochen, das macht viel Arbeit.“

„Darauf haben Emily und Tim sich bestimmt schon gefreut, wie jedes Jahr“, meinte Mutter und tat wieder sehr erwartungsvoll.

„Aber doch wohl nicht alles an einem Tag, Holzstapeln und Einkochen?“, wollte Tim wissen.

„Nein, nein“, beruhigte Vater, „wir werden schon nicht eure ganzen Ferien in Beschlag nehmen. Ihr werdet noch genügend Zeit für eure Streifzüge haben!“

So war es dann auch.
Heute waren sie vollauf beschäftigt mit Holz sägen und aufstapeln. Jedes Mal, wenn Emily ein Holzscheit aufgestapelt hatte, beobachtete Vater, wie sie kleine Zweige abbrach und zur Seite legte.
Er fragte: „Emily, willst du dir einen eigenen Holzstapel errichten, oder was machst du mit den vielen Zweigen?“

„Holzstapel? Nö“, kam Emily mit der Sprache heraus, „ ich brauche die Zweige, und die Blätter sammele ich nachher auch noch alle auf. Bei der Brombeerhecke hat doch ein Igel sein Nest,
und der braucht noch viel Material für den Winter.“

„Er soll es doch auch warm haben“, pflichtete Tim seiner Schwester bei.

„Prima Idee“, meinte Vater, „dann haben wir ja zum Schluss alles verwertet, und es bleibt kein Abfall übrig.“

Die Kinder schmunzelten und waren, trotz der schweren Arbeit, glücklich und zufrieden.

An diesem Abend gingen Emily und Tim todmüde ins Bett und wollten nicht mal mehr eine Geschichte von Oma Lina vorgelesen bekommen. Sie schliefen sofort tief und fest.

        Noch ziemlich verschlafen erfuhren Emily und Tim beim Frühstück des nächsten Tages, dass Oma Lina heute den ganzen Tag im Bett bleiben wollte. Sie hatte sich eine Erkältung zugezogen.

„Ist es schlimm?“, wollte Emily wissen.

„Nein, nicht so schlimm, wie eine richtige Grippe!“, erklärte Mutter. Oma hat sich zum Glück gegen die richtige Grippe impfen lassen.
Das wird schon wieder. Sie wird wohl einen oder zwei Tage das Bett hüten müssen.“

„Arme Oma“, Tim hatte Mitleid.

„Nun ja, ihr müsst also heute nicht beim Einkochen helfen und könnt den Tag nach euren Wünschen gestalten“, schlug Mutter vor.

Das musste sie nicht noch einmal sagen. Emily holte schnell noch einen Block und Stifte aus ihrem Zimmer, und dann machten sich die Geschwister ´auf die Pirsch´.

Weil sie ihre Augen offen hielten und schon geübt waren im Aufspüren von kleinen Tieren, hatten Emily und Tim sofort bemerkt, dass der Schlafplatz des kleinen Siebenschläfers unter dem Scheunendach verlassen war.

„Der muss sich ja auch einen frostsicheren Platz zum Überwintern suchen, zum Beispiel eine Höhle tief in der Erde“, erklärte Emily ihrem Bruder.

Tim schlug vor: „Genau, komm, lass uns nach dem Hamsterbau schauen! Vielleicht gibt es dort etwas Neues!“

Als sie am Feldrand angelangt waren, bekamen sie einen gewaltigen Schreck. Das ganze Feld, und somit auch der Feldrand mit dem Halmstreifen, war mit Pflug und Egge bearbeitet worden. Dabei war der Hamsterbau bestimmt zerstört worden!

„Vater!“, Emily hatte Tränen in den Augen.

Doch Tim sagte schnell:

„Das macht Vater doch jedes Jahr so, und der Hamster hat das noch jedes Mal überlebt.“

„Meinst du?“, fragte seine Schwester. „komm, lass uns weiter gehen und nach anderen Tieren Ausschau halten!“

        Nach kurzer Zeit schon waren die beiden Kinder wieder am Rand ihres Bauernhofes angekommen. Da bemerkten sie fast gleichzeitig eine schnelle Bewegung an dem dicken Stamm des Walnussbaumes hinter der alten Scheune.

„Bleib ganz still stehen“, flüsterte Tim, „ein Eichhörnchen!“

Auch Emily hatte den kleinen Kletterkünstler entdeckt. Es blickte in ihre Richtung und hatte sie anscheinend auch entdeckt, machte jedoch keine Anstalten zu flüchten. Wie ein Akrobat im Zirkus umrundete es immer wieder, mit allen Vieren festgekrallt, den Stamm. Von Zeit zu Zeit hielt es inne, blickte hinter dem Stamm hervor
und schimpfte laut keckernd.
Die Kinder rührten sich nicht. Aber was war das? Tim bemerkte, dass Emily gar nicht den Künsten des Eichhörnchens zuschaute, sondern auf ihre Füße sah. Was er dort unten erkannte, ließ Tim lächeln. Eine kleine Maus hatte sich auf Emilys Turnschuhen nieder gelassen, schnupperte an den Schnürsenkeln und fühlte sich dort anscheinend wohl und sicher. Erst, als Emily sich ein klein wenig bewegte, sprang die Maus ins Gras und huschte davon.

„Das Eichhörnchen“, flüsterte Tim aufgeregt und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Walnussbaum.

Und dort ging das Schauspiel weiter. Der kleine Akrobat kletterte dieses Mal mit dem Kopf voran den Stamm hinab und trug eine Walnuss zwischen den Zähnen. Am Boden angelangt stürmte es mit wellenartigen Sätzen, die Walnuss immer noch im Mäulchen, Mutters Kübelpflanzen entgegen.
Dort sprang es auf den Topfrand und begann, die Walnuss in der Erde zu verbuddeln.

„Mutter wird sich wundern“, meinte Tim, „ wenn sie im Frühjahr die Blumen umtopfen will.
Finden Eichhörnchen eigentlich alle verbuddelten Nüsse im Winter und im Frühjahr wieder?“

„Nein“, antwortete Emily auf Tims Frage. „Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis, aber ihr besonders ausgeprägter Geruchsinn ist weitaus wichtiger! Sie orientieren sich zwar an ihren Wegen, die sie im Herbst beim Verstecken der Nüsse, Samen und Bucheckern zurückgelegt haben, riechen aber schon eine Nuss, die einen halben Meter unter dem Schnee liegt. Was sie nicht wiederfinden, wächst im nächsten Frühjahr zu einer Pflanze heran.“

„Woher weißt du das alles, Frau Professor?“, wollte Tim wissen. „Du wirst bestimmt mal Lehrerin!“

„Ha!“, machte Emily spöttisch. „Wer in der Schule aufpasst und auch sonst viel liest, der weiß so etwas.“

Das saß! Tim machte große Augen und tat ein bisschen beleidigt.

„Ich meine natürlich nicht dich, Brüderchen!“

Nach dieser versöhnlichen Bemerkung machten sich die beiden Geschwister zufrieden wieder auf den Heimweg.

Die darauffolgenden Tage vergingen wie im Flug.
Oma Lina hatte ihre Erkältung gut überstanden, gemeinsam hatten sie das restliche Fallobst von der Streuobstwiese gesammelt und anschließend daraus Kompott hergestellt.

 

Vorlesezeit

 

        Tim und Emily hatten in den nächsten Wochen leider nicht die meiste Zeit, Tiere zu beobachten. Die Schule hatte begonnen,
ein paar wichtige Tests mussten noch geschrieben werden, und die Vorbereitungen für die Adventszeit und das Weihnachtsfest nahmen alle Kräfte voll in Anspruch.

„Um die Tiere ist mir nicht bange!“, bemerkte Emily eines Tages. „Der Siebenschläfer und der Feldhamster haben sich bestimmt schon tief in der Erde eingebuddelt. Vielleicht schlafen sie schon. Der Igel und das Eichhörnchen haben bei uns auf dem Hof genügend zu fressen gefunden, der Igel in der Streuobstwiese und das Eichhörnchen auf unserem Walnussbaum.“

„Davon könnt ihr ausgehen!“, bestätigte Oma Lina, die den beiden zugehört hatte.

„Habt ihr nach dem Abendessen etwas Zeit, mit mir auf dem Sofa vor dem Kamin zu kuscheln?“

„Au ja!“, riefen beide Enkel wie aus einem Mund. Kuscheln mit Oma Lina war immer etwas ganz Besonderes. Oma kannte die tollsten Geschichten.

 

So kam es, dass bei einem knackenden und knisternden, warmen Kaminfeuer Oma Lina mit ihren beiden Enkelkindern vor dem Kamin saß und zu erzählen begann:

„Jetzt beginnt für mich eine schöne Jahreszeit. Einerseits ist es draußen kalt und nass, aber dagegen haben wir ja den Kamin, andererseits habe ich in dieser Zeit viel mehr von euch, und das ist das Schönste. Natürlich finde ich es auch gut, wenn ihr draußen in der Natur herumstromert. Kinder brauchen viel Bewegung. Und was ihr mir alles über die kleinen Tiere in Feld und Flur erzählt habt, hat mich sehr gefreut. Vielleicht kann ich euch ja jetzt, in der kalten und dunklen Jahreszeit, ein paar Geschichten erzählen, die euch an hellere tage erinnern.“

„Oma“, unterbrach Emily sie,
„was du da gerade sagst, erinnert mich an die kleine Maus in meinem Kinderbuch.
Frederick, so heißt sie, hat im Herbst keine Samen und Nüsse für den Wintervorrat gesammelt, sondern Farben! Das hat seine Familie anfangs nicht verstanden. Als dann aber im Winter die Dunkelheit anbrach, da hat Frederik seinen Lieben alle von ihm gesammelten Farben geschenkt. Er hat das Dunkle durch sein Erzählen bunt und hell gemacht! In ihren Köpfen entstanden die schönsten Farben.“  „Genau, mein Kind. Die schöne Geschichte hat Leo Lionni sich ausgedacht!“
Oma Lina nahm ihre Enkelkinder noch fester in den Arm.

„Euer Opa Karl, der ja leider schon lange nicht mehr bei uns ist“, erzählte Oma Lina weiter, „hat vor vielen Jahren nicht nur hart auf dem Bauernhof gearbeitet, nein, er hat sich abends an den großen Schreibtisch im Wohnzimmer gesetzt, sich eine heiße Tasse Tee aufgesetzt und sich ganz viele Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend ausgedacht und aufgeschrieben.“

„Das hast du vor einiger Zeit schon einmal gesagt“, meinte Tim, „aber wir sind irgendwie nicht dazu gekommen.“

„Siehst du, mein Junge“, entschuldigte sich Oma, „und das soll sich ab sofort ändern. Ab heute erzähle ich euch jeden Tag oder am Abend eine Geschichte, die euer Großvater selbst erlebt und aufgeschrieben hat. Zugegeben, einiges hat er sich auch ausgedacht. Aber auch das wird euch gefallen!“

Die nächsten Tage und Wochen waren erfüllt von Plätzchenduft und Kerzenschein. Es wurde gebacken und gebastelt! Aber Oma Linas Erzähl- und Vorlesestunden waren immer ein Höhepunkt! Selbst Vater und Mutter nahmen sich die Zeit und gesellten sich zu ihnen.

„Oma“, wollte Emily wissen, „das sind doch hoffentlich nicht nur Geschichten vom Krieg?
Du hast mal erzählt, dass Opa im Krieg gefallen ist!“

„Nein, mein Kind“, antwortete Oma Lina, „das sind alles tolle Kindergeschichten, die euch bestimmt gefallen werden. Ich gebe euch heute erst einmal einen kleinen Überblick, denn es sind sehr viele Geschichten, die euer Großvater aufgeschrieben hat.“

Opas Geschichten waren wirklich eine Fundgrube von traurigen, lustigen und einfach nur schönen Geschichten.

Da waren seine Erlebnisse rund um seinen Geburtsort, beim Fußball spielen, im Schrebergarten und auf dem verbotenen Gelände des Kleinbahndepots. Auch von seiner Schulzeit gibt es einige Geschichten, zum Beispiel beim Diktat oder in der großen Pause. Weiter schreibt er über das Spielen mit Spielzeugautos,
mit der Feuerwehr und mit der Eisenbahn, über Urlaub in den Bergen und über Feiertage, wie Ostern und Weihnachten.

„In seinen Fantasiegeschichten konnte Opa Karl schon manches Mal in die Luft gehen!“, erklärte Oma Lina geheimnisvoll.

„Oma, fang an!“, bettelte Tim. „Lies oder erzähle irgendeine Geschichte, die Themen hören sich alle ganz toll an!“

„Nix da!“, unterbrach Vater.
„Ihr wisst jetzt, was in der nächsten Zeit für schöne Geschichten auf euch warten. Für heute ist Feierabend, ab ins Bett mit euch!“

Vater sah zum Glück nicht, dass Oma ihnen mit einem Auge zugezwinkert hatte.
Heute Abend ließen Tim und Emily sich von Oma Lina ins Bett bringen. Sie erzählte ihnen noch schnell, dass Opa Karl sich in den Geschichten den Namen Peter gegeben hatte. Danach las sie ihnen noch ganz kurz den Anfang der Geschichten vor, als Peter auf der Mauer am Bach auf seine Freunde gewartet hatte, sie waren zum Fußballspiel verabredet.

Anschließend gab es einen dicken Gute-Nacht-Kuss für beide Geschwister, und diese schliefen kurz darauf glücklich und zufrieden ein.
In ihren Träumen begegneten sie einem kleinen Jungen mit Namen Peter und erlebten mit ihm zusammen schon mal eigene Abenteuer.

 

Frühling

 

        So vergingen die Adventszeit und die Weihnachtszeit wie im Flug. Die Kinder kannten keine Langeweile. Als der erste Schnee gefallen war, bauten sie Schneemänner, machten Schneeballschlachten und suchten nach Tierspuren im Schnee.
Sie fanden Stellen, an denen das Eichhörnchen nach Nüssen gebuddelt hatte, auch Reste von Nussschalen waren zu erkennen. Die meisten anderen Spuren waren von Vögeln, die den Winter bei ihnen geblieben waren. Für die Amseln, Spatzen, Finken und Meisen hatte Vater Futterplätze hergerichtet, welche die Kinder jeden Tag säuberten und mit neuem Futter versorgten.

Am Abend war wie immer Vorlesezeit. Opas Geschichten begeisterten alle Zuhörer, und bei einer Tasse heißem Kakao oder Tee ließ es sich vor dem knisternden Kamin gut aushalten. Auch Mira lag schlafend unter dem Tisch.

Selbst der Unterricht in der Schule bereitete Emily und Tim viel Freude. Sie trafen ihre Schulfreunde manchmal auch nachmittags bei sich auf dem Bauernhof und ließen sie dann an ihren Entdeckungen teilhaben.
Am meisten Spaß bereitete es allen, wenn sie das quirlige Eichhörnchen beobachten konnten. Es trug jetzt ein dickes, dunkelbraunes Winterfell und war sehr neugierig. Einmal hätte es Tim beinahe aus der Hand gefressen.

Das nächste größere Projekt in der Schule lautete ´Tiere in Feld und Flur´. Daran arbeiteten alle Klassen gemeinsam. So hatten Tim und Emily die Gelegenheit, für ein paar Wochen gemeinsam an einem Thema, ihrem Lieblingsthema, zusammen zu arbeiten.

Emily brachte ihre gesammelten Notizen und ihre selbst gemalten Bilder mit zur Schule. Tim hatte in der Zwischenzeit so viele Samen, Früchte und Blätter getrocknet und gepresst, dass sie kaum in einen Schuhkarton passten.

Alle Schulkinder bastelten gemeinsam an riesigen Plakaten, die am Ende der Projektwochen in einer Ausstellung in der Aula allen Kindern, Eltern und anderen Interessierten gezeigt werden sollten. Während der Ausstellungen sollten die Kinder ihre persönlichen Arbeiten selbst vorstellen. Das würde bestimmt aufregend werden!

Am nächsten Schultag verkündete Herr B., der Direktor der Schule,  eine Überraschung. Alle Lehrer und Kinder versammelten sich in der Aula und horchten gespannt den Ausführungen ihres Direktors.

„Liebe Kinder, liebes Kollegium“, begann Herr B. geheimnisvoll, „wie ihr bestimmt schon alle längst bemerkt habt, bin ich mit eurer Arbeit während der Projektwoche sehr zufrieden. Weiter hatten wir ja eigentlich vor, als Abschluss unser Projekt groß in der Aula vorzustellen und dazu auch alle Eltern und Interessierte einzuladen.
Daraus wird nun leider nichts!“

„Ah, oh, nein!“, war aus allen Mündern zu hören, und Unmut machte sich breit.

Der Direktor wedelte mit den Armen und fuhr mit seinen Ankündigungen fort:

„Stattdessen - und hört gut zu!“, er machte eine bedeutsame Pause, „stattdessen ist es mir gelungen, einen andere Ort für unsere Ausstellung zu finden. Ich glaube, dass dieser Ort wesentlich besser geeignet ist, als unsere etwas kleine Aula. Ihr werdet es nicht glauben, doch es ist die Wahrheit: Wir stellen in der Windmühle auf dem Finkenberg aus! Die hat mehrere Stockwerke und ist für unsere Zwecke der ideale Ort!
Ich glaube, ...!“

Weiter kam Herr B. nicht, denn ein allgemeines Hallo und Hurra ging in anschließenden tosenden Beifall über. Alle Anwesenden waren begeistert, und heute gab es als Belohnung für die Kinder
ab sofort schulfrei.

In der letzten Projektwoche wurde Unterricht in besonderer Form gemacht. Die ersten beiden Stunden war immer für Mathematik und Deutsch reserviert, diese wichtigen Fächer durften auf keinen Fall zu kurz kommen, der anschließende Marsch zur Windmühle wurde als sportliche Betätigung gewertet, und Sachunterricht und Kunst fand in der Mühle statt.


„Ja - und was ist mit Religion und Musik?“, wollte ein Schüler wissen.

„Auf dem Weg zur Windmühle werden wir Wanderlieder singen und dabei Gottes schöne Natur preisen!“, bekam er zur Antwort.

Die Ausstellung in der Windmühle fand sehr großen Anklang bei allen Beteiligten und auch in der übrigen Bevölkerung.

Stimmen waren zu hören:

„So muss sich unsere Schule öfters präsentieren, dann erfahren wir, was unsere Kinder tolles zu leisten im Stande sind!“

Oder: „An dieser fantastischen Ausstellung und an den Beiträgen der Kinder erkennt doch wohl jeder, dass auch unsere kleinen Schulen erhalten bleiben müssen!“

Nach diesem wundervollen Ergebnis wollte dem niemand widersprechen.

„Emily“, flüsterte Tim seiner Schwester leise ins Ohr, „ich muss dir etwas gestehen!“

„Was denn!“, fragte Emily lauter, so dass es alle um sie herum hören konnten.
„Mach es nicht so spannend, schieß schon los!“

Zuerst zierte Tim sich doch sehr, dann gab er jedoch kleinlaut zu:

„Ganz ehrlich, bei dem Thema `Tiere in Feld und Flur` habe ich bei dem Wort Flur immer gedacht, wir müssten auch unseren Hofhund Mira und unsere Katzen ausstellen, weil die doch bei uns auf dem Flur leben!“

Darauf brach ein allgemeines, lautes Gelächter los - und Tim bekam ganz rote Ohren.

 

Die Aufgabe

 

        Die Ausstellung `Tiere in Feld und Flur` in der Windmühle auf dem Finkenberg war ein großer Erfolg! Noch lange danach sprach man im Dorf und Umgebung nur lobend von der Arbeit der Kinder und der ganzen Schule.
Emily und Tim waren sehr glücklich, denn sie hatten durch die Beobachtungen auf ihren  Pirschgängen viel zum Gelingen beigetragen. Die getrockneten und gepressten Ausstellungsstücke von Tim sowie die Texte und Zeichnungen von Emily waren jeden Tag aufs Neue ein Höhepunkt.

Die Woche nach den Projekttagen ging ihren normalen Gang. Schule, Hausaufgaben machen und auf dem Hof helfen war angesagt. Abends las Oma Lina immer neue Geschichten von Opa Karl vor. Ihre Quelle schien nicht zu versiegen.

„Oma“, wollte Emily wissen, „hat denn Opa Karl mehr als tausend Bücher geschrieben?“

„Nein“, mein Kind“, antwortete Oma, „ganz so viele sind es nun doch nicht. So viel Zeit war ihm leider nicht vergönnt!“
Als sie das sagte, sah sie doch ein wenig traurig aus.

„Aber glaub mir, ein paar Geschichten sind noch vorhanden, die ich bisher nicht vorgelesen habe. Danach werde ich mir wieder einige selbst ausdenken müssen.“

„Das ist doch auch schön“, tröstete Tim Oma Lina, „deine Geschichten hören wir auch sehr gerne!“

Beide Kinder kuschelten sich ganz fest an ihre Oma und drückten sie.

„Oh, störe ich?“, Vater war es, der diese Idylle störte.
„Ich wollte nur fragen, ob ihr mir morgen Nachmittag helfen könnt? Die Schafe vom Nachbarn brechen in letzter Zeit regelmäßig aus ihrem Pferch aus und fallen in unsere Streuobstwiese ein.“

„Dort gibt es doch noch nicht viel zu holen“, meinte Tim.

„Recht hast du, aber das scheinen die Schafe nicht zu wissen. Jedenfalls zertrampeln sie mir regelmäßig den niedrigen Zaun und das saftige Gras.“

„Und was sollen wir machen?“, fragte Emily.

„Ihr sollt morgen Nachmittag auf der Wiese Wache halten und die Schafe vertreiben, bevor sie wieder alles zertrampeln.
Mira kann euch dabei helfen!“

Emily und Tim waren stolz, eine so wichtige Aufgabe bekommen zu haben. Mit Mira zusammen würden sie bestimmt am nächsten Tag viel Spaß haben.

An diesem Tag vergingen die Unterrichtsstunden viel zu langsam. Tim und Emily konnten in ihren Klassen nicht still am Tisch sitzen und sich kaum konzentrieren. Immer wieder schauten sie auf die Schuluhr. Wann war denn der Morgen endlich vorbei?!

Beim ersten Läuten der Schulglocke waren die beiden Geschwister schon aus der Tür und trafen sich vor dem Schulgebäude. Den größten Teil ihres Nachhauseweges legten sie laufend zurück und kamen lachend, aber total verschwitzt auf dem Bauernhof an.

Das Mittagessen wurde hinunter geschlungen, die Hausaufgaben in Windeseile erledigt, und die Vorbereitungen für die Wache konnten beginnen.

„Wir brauchen unbedingt etwas zu essen und zu trinken!“, rief Emily. „Wer weiß, wie lange wir draußen bleiben müssen.“

„Ich nehme mein Taschenmesser und einen Stock mit“, sagte Tim ganz aufgeregt.
„Wenn ich darf, nehme ich auch noch das Fernglas mit. Damit kann man viel weiter gucken und die Schafe schon viel eher bemerken.“

Vater war natürlich einverstanden und meinte, dass er die Kinder noch vor dem Dunkelwerden wieder abholen würde.

„Musst du nicht“, nörgelte Tim, „wir können doch Taschenlampen mitnehmen und alleine nach Hause kommen.“

„Nix da!“, war Vaters einziger Kommentar.
Mutter und Oma Lina packten einen großen Picknickkorb voll mit den leckersten Sachen.
Zum Schluss klemmte Vater Tim noch eine große Wolldecke unter den Arm und pfiff nach Mira. Diese kam sofort angerannt und wedelte vor Freude mit dem ganzen Körper.

Als sie am Rand der Streuobstwiese angekommen waren, sagte Tim:
„Unter der großen Eiche ist der beste Platz für unser Lager. Dort sind wir geschützt vor Wind und Wetter und haben den besten Überblick.“

Emily war natürlich einverstanden, sie breiteten die Decke aus und machten es sich fürs Erste gemütlich.

Lange konnten die beiden die Ruhe jedoch nicht genießen.
Tim hatte sich gerade ein Plätzchen in den Mund geschoben, als er mitten im Kauen innehielt und nuschelte:

„Still, hast du das gehört?“

Auch Emily drehte sich zum nahegelegenen Hang des Nachbarn um und lauschte. Richtig, da war das Geräusch wieder oder besser die Geräusche! Ein Rupfen, Scharren und Blöken kam näher und näher und wurde immer lauter. Mira hatte sich schon aufgesetzt und die Ohren gespitzt. Ein dumpfes Knurren kam aus ihrer Kehle.

„Ruhig, meine beste“, beruhigte Tim seine treue Begleiterin, „wir machen das gemeinsam!“

Auf einmal brach die Hölle los!
Die Herde hatte den niedrigen Zaun und die Wiese noch nicht erreicht, wurde aber immer lauter und schneller. Sie rannte jetzt wie angetrieben auf die Streuobstwiese los. Die Aussicht auf saftiges Gras raubte den Tieren anscheinend den Verstand. Tim wollte zum Fernglas greifen, ließ es aber liegen und nahm stattdessen seinen Stock in die Hand. Schreiend, mit den Armen wedelnd und mit Mira vorne weg rannten sie auf die Schafe zu.

Die ersten Tiere der Herde waren entsetzt wegen des unerwarteten Angriffs der Kinder und stemmten ihre Hufe in den Boden vor dem Zaun. Die nachfolgenden Schafe rannten in die vorderen hinein. Einige konnten nicht so schnell umkehren, stürzten und rappelten sich verdutzt wieder auf. Nach vorne gab es kein durchkommen! Das Knäuel aus Tierleibern wurde immer unüberschaubarer, und das Blöken nahm an Lautstärke gewaltig zu. Mira und die Kinder waren über den niedrigen Zaun gesprungen und droschen auf die Tiere ein, noch bevor diese den Zaun erreicht hatten.
Mit Jubelschreien beobachteten Tim und Emily, wie die kleine Herde sich langsam und dann immer schneller werdend in die andere Richtung bewegte. Mira blieb ihnen noch ein gutes Stück des Weges auf den Fersen.


Tim pfiff den Hund zurück, und die beiden Geschwister lagen sich vor Freude in den Armen.
Sie hatten ihre Aufgabe bisher mehr als gut bewältigt!

Jetzt sollten erst einmal die guten Sachen aus dem Picknickkorb herhalten. Tim und Emily ließen es sich gut schmecken und steckten auch Mira ein paar Leckerlis zu. Sie hatte ihre Arbeit ebenfalls gut gemacht!

Nach einiger Zeit, als sich keine Schafherde mehr zeigte, wurde es den Kindern etwas langweilig.
Tim nahm das Fernglas zur Hand und ließ seine Blicke in der Gegend umher schweifen.
“Du, Emily“, fragte er auf einmal seine Schwester.

„An der Eiche hinter unserer Scheune haben wir doch vor kurzem das Eichhörnchen beobachtet. Du weißt doch, das, welches so lustig um den Baum herum gesprungen ist!“

„Ja, wieso“, antwortete Emily, „hast du etwas gesehen?“, und sie nahm noch einen kräftigen Schluck aus ihrem Kakaobecher.

„Genau!“, tat Tim geheimnisvoll. „Dort, hinter der Eiche habe ich mehrere Bewegungen ausmachen können. Ich glaube, da sind eine Menge unterschiedliche Tiere unterwegs!“

„Das gibt es doch gar nicht!
Lass uns näher ran gehen!“

Die beiden Kinder machten Mira am Zaun der Streuobstwiese fest, schlichen zur Scheune und gingen hinter einem Busch in Stellung.

Direkt vor ihnen, unter der Eiche mit dem Kobel des Eichhörnchens, sahen sie eine Versammlung von kleinen Tieren, die es so gar nicht geben konnte. Da saßen doch tatsächlich ein Siebenschläfer, ein Feldhamster, eine Haselmaus, ein Eichhörnchen und ein Igel einträchtig beieinander und fraßen friedlich die unterschiedlichsten Körner, Nüsse und Samen.

Tim und Emily standen die Münder offen. Eine dermaßen einträchtige Versammlung von solchen Tieren konnte es nicht geben!
Davon wurde noch nie berichtet, und es stand auch in keinem Lehrbuch, das Emily kannte!

Die Tiere schnurrten, piepsten, knurrten und fauchten wild durcheinander und bewegten
sich von einem zum anderen.
Das musste eine für die Tiere sehr wichtige Versammlung sein!
Erst nach etlichen Minuten liefen sie in alle Himmelsrichtungen davon.

„He, was ist denn mit euch los?“

Vater stand mit Mira an der Leine hinter ihnen und tadelte sie:
„Ihr könnt doch Mira nicht so lange bei der Wiese angebunden lassen! Und was macht ihr hier eigentlich?“

„Du glaubst es nicht“, sprudelte es aus Tim heraus, „du glaubst nicht, was wir eben gesehen haben. Das gibt es gar nicht! ...“

Den ganzen Abend über erzählten die beiden Geschwister von ihrem wundersamen Erlebnis.
Das erfolgreiche Vertreiben der Schafherde war nur noch Nebensache. Die Blicke ihrer Eltern und auch die von Oma Lina waren sehr skeptisch.

„Kinder“, meinte Oma, „ihr habt ja noch mehr Fantasie als euer Opa Karl! Man merkt, dass ihr seine Enkelkinder seid!“

Darüber mussten alle herzlich lachen.

 

Zukunft

 
        Am nächsten Morgen, beim Frühstück, war die wundersame Versammlung der Tiere immer noch Gesprächsthema.
Die Geschwister Emily und Tim spürten jedoch, dass ihre Eltern und auch Oma Lina  die Geschichte eher in den Bereich der Fabeln ansiedelten.

„Opa Karl“, begann Oma Lina,
„hat in seinen Geschichten ebenfalls die wundersamsten Erlebnisse erzählt. Er schrieb, dass er fliegen konnte, dass er geschrumpft war und sich mit einem Laufkäfer unterhalten hatte und noch vieles mehr!“

„Oma“, sagte Tim etwas beleidigt, „du brauchst dich nicht lustig über uns zu machen. Wir wissen,
was wir gesehen haben!“

Auch Emily war nicht gerade glücklich darüber, dass ihnen nicht geglaubt wurde und beschloss, am Nachmittag viele Bilder zu ihrem Erlebnis zu malen und alles aufzuschreiben!

        Emilys Geschichten und Bilder nahmen viel Zeit in Anspruch, doch sie gab sich sehr viel Mühe!
Als sie damit fertig war, beschloss sie, das fertige Werk an den BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland) zu schicken. Vielleicht würden die von ihnen beobachteten kleinen Tiere und deren Nöte durch ihre Geschichten etwas mehr Gehör bei den Menschen finden!?

Ihr Buch bekam den Titel „Winterschlaf“!


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